Das Auftauchen der Neonazis in den Neunzigerjahren hat die Autorin bis heute geprägt. Ein Gespräch über eidgenössisches Erbe, Schweizer Monster und Friedrich Dürrenmatt.
Martina Clavadetscher starrt gebannt auf die Wand. Drachen sind darauf gemalt, eine Hitler-Figur und pralle Männer mit schwarzen Zylindern. Sie ist begeistert. «Es ist alles da, er hat das alles schon gemalt – aber das wusste ich gar nicht! Und wie tragisch-komisch, dass alles noch aktuell ist.»
Die Figuren und Symbole, die mal düster, mal karikaturhaft die Wände einer Berner Mansarde überziehen, bevölkern teilweise auch Clavadetschers neuen Roman. «Die Schrecken der anderen» beginnt als Krimi und endet als Kritik. Auch darin ist der Roman eine Hommage an einen, den Clavadetscher bewundert, seit sie ein Teenager war: Friedrich Dürrenmatt. Jener Dürrenmatt, der vor mehr als achtzig Jahren die Mansardenwände bemalt hat, vor denen Clavadetscher nun erstmals steht und staunt.
Leichen im Keller
Dürrenmatts Eltern liessen ihn in der Mansarde wohnen, während er an der Universität Bern studierte – und der Sohn bemalte die weissen Wände mit Figuren und Monstern. Als die Familie wegzog, überstrichen die neuen Bewohner die alten Kritzeleien. Erst nach Dürrenmatts Tod wurden seine Wandmalereien wiederentdeckt.
Das Hervorholen von lange Überdecktem ist auch das wichtigste Paradigma von Clavadetschers neustem Roman. «Wenn etwas auftaucht, das schon als vergessen galt, kann das lästig sein für einige – für andere ist das vielleicht ein Glücksfall», sagt ganz zu Beginn die alte Rosa, als im zugefrorenen Ödwilersee eine Leiche gefunden wird.
Was die Polizei bald als Unfall ad acta legt, lässt der resoluten Rosa und dem introvertierten Polizeiarchivar Schibig keine Ruhe. Rosa weiss und Schibig spürt: Im metaphorischen Keller des Kaffs Ödwil verbirgt sich mehr als nur diese eine Leiche. Die beiden beginnen zu recherchieren, sie finden einen stramm rechten Geheimbund aus alten Herren mit schwarzen Zylindern, die an einer anderen Schweiz werkeln und dafür auch die Junge Aktion – die natürlich an die real existierende, rechtsextreme Junge Tat erinnert – fördern.
Die Monster der Schweiz
Wie Dürrenmatt, der stets nicht nur ein konkretes Verbrechen, sondern ebenso ein gesamtgesellschaftliches Problem aufdeckte, nutzt Clavadetscher die Neugier, die der Tote im Eis weckt, um das Interesse an einem viel grösseren Verbrechen zu entfachen.
In Clavadetschers Erzählung wurden die Gebeine der einstigen Schweizer Nazis nicht zu Staub, sondern zu einem Moder, in dem das Alte aufs Neue wächst. Parallel zu Rosa und Schibig erzählt sie auch von der einflussreichen Familie Kern; durch NS-Geschäfte reich gewordene Schweizer Schweinebauern.
Nun liegt die uralte Frau Kern, «das Muttergestein», im Dachstock ihres Anwesens auf dem Sterbebett. «Ihr Gesicht ragt wie ein kantiges Bergrelief aus der Baumwolle.» Unverrückbar wie ein Fels wirft sie ihren langen Schatten auf den Sohn; ein Mitläufer, ein Zuschauer, einer, der in seiner Untätigkeit auch an die Schweiz selbst erinnert, die sich gerne herausnimmt aus dem Weltgeschehen.
Tyrannisiert von der Mutter und befremdet über den Geheimbund der Zylinderträger, dem er selbst angehört, stolpert Kern durchs Leben. Beim Optiker lässt er sich die Brillengläser richten, und während Schibig und Rosa Erkenntnisse zutage fördern, beginnt auch Kern, klarer zu sehen.
Der Ort als Steigbügelhalter
Die Monster der Schweiz, so beschreibt Clavadetscher das, leben nicht nur in Bergsagen von Drachentötern und Heldenfiguren, die sie symbolträchtig und an manchen Stellen etwas zu zahlreich in ihren Text verwebt, sondern vor allem in den Menschen selbst.
Alles ist verwoben, die Geschichte mit der Gegenwart, die Fiktion mit der Realität, Deutschland mit der Schweiz – und so strotzt «Die Schrecken der anderen» denn auch vor Referenzen. Das macht Spass, erinnert manchmal aber auch an Christian Kracht, dessen Romane immer mehr zur literarischen Schnitzeljagd verkommen. Auch bei Clavadetscher gibt es Kreise, die sich allzu leicht schliessen, und Metaphern – «Die Schalen hüpfen im Topf und klingen wie das Zähneklappern eines Teufels» – die man hätte streichen sollen.
Insgesamt aber bewegt sich Clavadetschers Sprache sicher zwischen knapper Nüchternheit und einer düsteren Märchenhaftigkeit. Dabei vermischt sie gekonnt Realität und Sagenhaftigkeit, schreibt etwa vom Frakmont, was auch nur ein anderer Name für Pilatus ist. Abgeleitet vom lateinischen «fractus mons», der gebrochene Berg, wurde daraus der Frakmont. Erst später setzte sich Pilatus durch.
Sie verpflanzt das Churer NS-Denkmal in die Zentralschweiz. Einen vermuteten, aber nie gehobenen Milliardenschatz aus NS-Vermögen – der unter dem Decknamen «Deutsche Winterhilfe» zusammengetragen und auf einem geheimen Schweizer Konto abgelegt worden sein soll – holt sie in die Realität.
Als der Roman Mitte Juli erschien, war Clavadetscher erstaunt, wie gross das Bedürfnis der Leserschaft nach klaren Bezügen zur Realität ist und wie oft gefragt wird, für welchen realen Ort das fiktive Ödwil steht. Antwort gibt Clavadetscher darauf nicht. Denn: «Man muss sich die Fiktion zurückerobern.» Eine Erklärung hat sie dennoch: «Ein Ort ist natürlich auch immer ein Steigbügelhalter dafür, ob man in die Pflicht genommen wird, oder ob man eine Ausrede hat, um sich nicht auseinanderzusetzen.»
Gegen das Establishment
«Die Schrecken der anderen» ist Clavadetschers bisher persönlichstes Buch. 30 Jahre habe es in ihr gegärt, seit sie als 16-Jährige das Auftauchen der Neonazis in ihrer Innerschweizer Heimat beobachtet habe. Nun, kurz nachdem ihr Buch erschienen war, sorgte eine Gruppe von in SS-Uniformen gekleideten Wanderern im Berner Oberland für Aufruhr – und unterstrich Clavadetschers Aktualitätsanspruch.
Es steckt vieles drin in dem Roman, das auch Clavadetschers Leben mitgeprägt hat. Als mittleres von drei Kindern wuchs sie in Brunnen auf. Eine Kindheit zwischen zwei Brüdern, durchsetzt von Büchern und Papier, Zeitungen auch, denn der Vater war Journalist, und von Geschichten.
Jeden Sommer ging die Familie nach Italien, und jedes Mal, wenn sie durch den Gotthard fuhren, wollten die Kinder die Geschichte vom Teufelsstein hören. Dazu kamen Kassetten und später Fernsehserien. «Ich war schon früh ein Story-Junkie», sagt Clavadetscher. Politisch geworden sei sie dann erst später, am Gymnasium, «durch den Aufschwung der Rechten in den Neunzigern und die damit einhergehende Fremdenfeindlichkeit».
Allzu laut wolle sie nicht werden, sagt Clavadetscher. «Aber zu einer Schriftstellerin gehört auch eine klare Haltung.» Strukturen, die ihr überholt erscheinen, hinterfragt sie mit ihren Theaterstücken und Romanen. Selten polternd, meist unterhaltsam und bisweilen witzig.
«Vor aller Augen» (2022) etwa entlarvt mit elegant-feministischer Stimme den «male gaze», den männlichen Blick auf die Frau, indem Clavadetscher die Lebensgeschichten der Modelle bekannter Maler erzählt. Frauen, die zu Oberflächen wurden, bekommen ihre Tiefe zurück. Für «Die Erfindung des Ungehorsams», eine Mischung aus Rebellinnengeschichte und Introspektion, gewann sie 2021 den Schweizer Buchpreis.
Die Mitte der Schweiz
Auch heute noch lebt Clavadetscher mit ihrem Partner und dem 16-jährigen Sohn in Brunnen. «Nichts ist wie dort, wo man aufgewachsen ist», sagt sie. Das sei es aber auch, was ihr die kleine Heimat manchmal zu eng mache: «Ich bin derart verbunden mit allen und allem. Ich kann mich emotional nur schwer herausnehmen.»
Nachdem sie für einige Monate alleine in New York geschrieben und gelebt hat, hat sie auch in der Schweiz eine Zweitwohnung. Sie lebe «mindestens zwei Leben», sagt Clavadetscher. Eines mit der Familie, das andere in der kleinen Wohnung in Luzern. Für sich zu sein, tue gut. Und in der Innerschweiz halte sie es kaum länger als eine Woche aus.
Dann steigt sie wieder in den Zug und fährt weg, nach Luzern meist, nach Zürich auch, wo die meisten ihrer Schriftstellerkolleginnen wohnen – denn «man wird wunderlich, wenn man zu lange nur in der Kopfwelt lebt». Oder nach Biel, wo sie Mentorin am Literaturinstitut ist. Ein kleines, festes Einkommen, auf das sie sich verlassen kann. Und Balsam für die besorgte Literaten-Seele: «Bichsel, von Matt, Leutenegger, gerade sind so viele grosse Schweizer Autoren gestorben. Aber in Biel sehe ich: Es kommen neue nach.»
Fan von «Fritz»
Wer «Die Schrecken der anderen» liest, kommt nicht umhin, an Dürrenmatt zu denken. Immerhin ist der Roman, so sagt das Clavadetscher, «ein schelmischer Knicks vor seiner grotesken Gesellschaftskritik».
Manchmal subtil, wie der wenig schmeichelhafte, erfundene Ortsname Ödwil, der an Güllen mahnt. Manchmal arg, etwa wenn der Archivar Schibig in Rosa Dürrenmatts Claire Zachanassian aus «Der Besuch der alten Dame» erkennt: «Eine Rückkehrerin, eine ländliche Gegend, der heimliche Plan, die Mächtigen vor Ort werden in eine komplexe Falle gelockt, und die Übeltäter bezahlen für ihre damaligen Taten.» Doch Clavadetscher hebt gleich selbst den Zeigefinger, und Schibig merkt, «dass er sich da gar nicht Neues ausdenkt, worauf ihm – enttäuscht von der imitierten Fiktion – nur ein realistisches Seufzen übrig bleibt».
Spricht Clavadetscher in der Mansarde in Bern von Dürrenmatt, sagt sie «Fritz», denn ein bisschen ist der Autor zur Familienfigur geworden. Obwohl in ihrer Erinnerung die Mutter diejenige war, die stets ein Buch mit sich herumtrug, war es der Vater, der sie literarisch prägte. Er nämlich war der erste Dürrenmatt-Fan in der Familie.
Sie gäbe vieles darum zu wissen, was Dürrenmatt heute denken, schreiben und kritisieren würde. «Bestimmt würde er die anhaltende Wirtschaftshörigkeit kritisieren», sagt sie. Ein neuer Dürrenmatt ist Clavadetscher nicht. Und doch gelang und gelingt beiden, was viele andere vergeblich anstreben: Bücher schreiben, die sich schnell lesen und lange zu denken geben.
Martina Clavadetscher: Die Schrecken der anderen. Roman. C. H. Beck, München 2025. 328 S., Fr. 36.90.