Der französische Starautor wird nicht müde, über sein Leben und seine Familie zu schreiben. Nun ist – schon wieder – seine Mutter an der Reihe.
Wahrscheinlich ist Autofiktion die grösste Plage, die je über die Literatur gekommen ist. Die Franzosen haben es darin zur vollendeten Meisterschaft gebracht, angeführt von der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Sie hat ihren Adepten vorgeführt, wie das Geschäft der Selbstentblössung geht. Sie ist immer zugleich Lebensbeichte und Anklageschrift.
Zu Annie Ernaux’ eifrigsten Jüngern gehört der in Pariser Literatenkreisen zum unumstrittenen Star avancierte Édouard Louis. Seit der 1992 geborene Autor vor gut zehn Jahren mit «Das Ende von Eddy» debütierte, wurde er als literarisches Wunderkind herumgereicht und vom Soziologen Didier Eribon gleichsam adoptiert. Sein Ruhm verbreitete sich schlagartig und unaufhörlich. Bald gibt es in Deutschland keine Bühne mehr, die sich nicht mit dramatisierten Adaptionen seiner Bücher profiliert.
Der Auftrag
Édouard Louis wird nicht müde, ungeachtet seines zarten Alters vor der Anhängerschaft die Lebensbeichte als Fortsetzungsroman abzulegen. Und weil auch in seiner Familie einiges los ist, erzählt er umso bereitwilliger aus dem Intimleben der nächsten Angehörigen. Nach einem dem Vater gewidmeten Buch schildert er 2021 in «Die Freiheit einer Frau», wie sich seine Mutter von ihrem gewalttätigen Mann trennt und aus der Provinz nach Paris und damit in die Nähe ihres Sohnes zieht. Das Buch wurde, kaum war es erschienen, in Hamburg auf die Bühne gebracht.
Weil das Leben der Mutter seither nicht stillgestanden ist, folgt nun bereits das nächste Mutterbuch: «Monique bricht aus» heisst es und ist, wonach es klingt: ein Groschenroman. Am Ende des dürftigen Büchleins macht der Autor ein Geständnis. Das Werk sei eine Auftragsarbeit, sagt er etwas kokett. Die Mutter habe ihn, «halb im Spass, halb im Ernst», dazu aufgefordert, ein zweites Buch über sie zu schreiben. Sie habe sich seit dem letzten weiter verändert. «Darüber müsstest du mal schreiben! Ich bin jetzt ein anderer Mensch.»
So etwas braucht man einem Édouard Louis nicht zweimal zu sagen. Er fügt zum ersten gleich noch ein zweites Geständnis hinzu: Eigentlich sei er gerade mit einem anderen Buch beschäftigt gewesen. Darin «ging es um meinen älteren Bruder, der sich mit achtunddreissig zu Tode getrunken hatte». Das habe er dann einige Zeit später zur Seite gelegt – ob dieser Teil der Familiensaga nur aufgeschoben sei, verrät er nicht –, um «stattdessen dieses neue Kapitel im Leben meiner Mutter» aufzuzeichnen. Es ist das Buch, das man in Händen hält.
Zweite Befreiung
«Monique bricht aus» erzählt das Szenario aus dem Vorgängerbuch. Die Mutter lebt nun in Paris, sie hat den Provinz-Macho verlassen, freilich nur, um sich in der Wohnung eines urbanen Pendants wiederzufinden. Der Mann ist ein Trinker, der sie demütigt, beschimpft und quält. In der Not ruft sie den Sohn an, der sich zwar gerade als Stipendiat in Athen aufhält, aber nun aus der Ferne heroisch die zweite Befreiung der Mutter organisiert.
Die Geschichte findet ihre Apotheose an jenem Abend, da in Hamburg, im Beisein von Mutter und Sohn, die Bühnenversion von «Die Freiheit einer Frau» im Deutschen Schauspielhaus aufgeführt wird. «Der Vorhang fiel, und um uns herum brach Beifall aus. (. . .) Der Beifall war so stürmisch, ich schwöre es, er war so stürmisch, dass der Boden unter unseren Füssen bebte.»
Dann fällt auch schon der Vorhang über dem Buch, das die Mater dolorosa heiligspricht – oder vielleicht doch eher den Sohn? Es bleibt offen. Gewiss ist nur, wie jede Plage wird auch die Autofiktion einmal nichts als eine blasse Erinnerung sein.
Édouard Louis: Monique bricht aus. Aus dem Französischen von Sonja Finck. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 160 S., Fr. 33.90.