Italiens Vizeregierungschef Salvini sorgte 2019 dafür, dass Migranten vom Mittelmeer wochenlang nicht an Land konnten. Er musste deswegen vor Gericht – nun wird er überraschend freigesprochen.
Drei Jahre lang gefiel sich Matteo Salvini in der Rolle des Verfolgten der Justiz. Italiens stellvertretender Ministerpräsident stand in Palermo vor Gericht, weil er im Sommer 2019 als Innenminister einem Rettungsschiff mit Geflüchteten fast eine Woche lang das Einlaufen in den Hafen der Mittelmeerinsel Lampedusa verweigert hatte. Nach 24 Verhandlungstagen sprachen die Richter Salvini am Freitagabend von dem Vorwurf der Freiheitsberaubung und des Amtsmissbrauchs frei. «Der unkontrollierten Invasion von Migranten entgegenzuwirken, ist keine Straftat», sagte Salvini unmittelbar nach der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsbunker im Gefängnis Pagliarelli in Palermo.
Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Haft gefordert
Der rechtspopulistische Lega-Chef errang überraschend einen klaren Sieg vor Gericht. Der Richter begründete den Freispruch damit, dass der Tatbestand nicht erfüllt sei. Im Gerichtssaal wurde die Urteilsverkündung mit einem langen Applaus aufgenommen. Die Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Haft für den derzeitigen Verkehrs- und Infrastrukturminister der Regierung von Giorgia Meloni gefordert. Sie warf Salvini Amtsmissbrauch und Freiheitsentzug in 147 Fällen vor.
Als damaliger Innenminister habe Salvini vorsätzlich und wissentlich gegen internationales Seerecht und gegen die Menschenrechte verstossen, als er im August 2019 dem Schiff «Open Arms» der spanischen Hilfsorganisation die Einfahrt in einen sicheren Hafen verweigert habe, hiess es in der Anklageschrift. Salvini habe so gehandelt, «um das Image eines im Umgang mit der Migration unnachgiebigen Politikers zu fördern», schrieben die Staatsanwältinnen. Menschenrechten aber gebühre der Vorrang vor der Verteidigung von Landesgrenzen. Erst auf Anordnung eines sizilianischen Staatsanwalts durften die erschöpften Migranten 19 Tage nach ihrer Rettung vor der tunesischen Küste in Italien an Land gehen.
«Politik der geschlossenen Häfen»
Die «Open Arms» irrte damals unter den Augen der Weltöffentlichkeit übers Mittelmeer. Die Situation auf dem überfüllten Schiff hatte sich im Verlauf der Tage in der Augusthitze dramatisch zugespitzt. Zur Urteilsverkündung in Palermo waren am Freitag Journalisten und Fernsehteams aus ganz Europa angereist.
Salvinis Anwältin Giulia Bongiorno sprach von einem vollen Freispruch. «Es gibt keine ‹Aber› in diesem Urteil», sagte sie. Die Verteidigerin hatte auf Freispruch plädiert. Sie argumentierte, dass es sich um «eine legitime politische Entscheidung» gehandelt habe. Fünf Jahre nach seinem unnachgiebigen Vorgehen gegen die Flüchtlingshelfer und gegen die Migranten sah sich Salvini nun in seiner «Politik der geschlossenen Häfen» bestärkt. «Wer die Migranten benutzt, um Politik zu machen, hat heute verloren», sagte er. Regierungschefin Giorgia Meloni drückte ihre «grosse Zufriedenheit» über den Freispruch aus. Die Anklage gegen Salvini sei «unbegründet und surreal» gewesen.
Den Prozess als Bühne benutzt
Vor fünf Jahren hatte sich Salvini, damals auf dem Höhepunkt seiner Popularität, mit der brachialen Abschottungspolitik als Innenminister der populistischen Koalitionsregierung mit der Fünf-Sterne-Bewegung von Giuseppe Conte profiliert. «Ich bin stolz auf das, was ich getan habe», sagte er am Tag vor der Urteilsverkündung. Er würde es genauso wieder machen, fügte er hinzu. Der Angeklagte hatte den Prozess ausgiebig als Bühne genutzt, um sich als Opfer der Justiz zu inszenieren. Auch das verbindet den glühenden Trump-Anhänger in Italien mit dem designierten amerikanischen Präsidenten. Einen Tag vor der Urteilsverkündung stärkte der Milliardär Elon Musk Salvini den Rücken: «Verrückt, dass Salvini vor Gericht steht, weil er Italien verteidigt!», schrieb der Trump-Vertraute auf seiner Plattform X. Das Klima in Italien war so aufgeheizt, dass die drei Staatsanwältinnen des Prozesses wegen Tausender Drohungen und Beschimpfungen unter Polizeischutz gestellt wurden.
In der Lega regt sich Widerstand
Der Freispruch kommt für Melonis angeschlagenen Koalitionspartner in einem heiklen Moment. Salvinis Wählerbasis ist drastisch geschrumpft. Es gelingt dem bekennenden Putin-Freund zudem kaum noch, auf die Regierungslinie Einfluss zu nehmen. Nicht einmal in der Haushaltspolitik konnte er zuletzt seine Forderungen durchsetzen, obwohl die Lega den Finanzminister stellt. Auch für Salvini selbst lief es als Verkehrs- und Infrastrukturminister schlecht. Schlimmer noch: Das Vorzeigeprojekt der Lega einer «differenzierten Autonomie der Regionen» ist vorerst gescheitert.
Am gefährlichsten ist aber für ihn: In der Lega regt sich immer heftigerer Widerstand gegen den Parteichef. Salvini hatte die ehemalige Regionalpartei vor fünf Jahren auf einen ultrarechten und nationalistischen Kurs gezwungen. Nun drängt ein Grossteil seiner Mitstreiter auf eine Rückkehr zu den Anfängen, als sich die Partei vornehmlich für die Interessen des wohlhabenden Nordens eingesetzt hatte. Auch wenn die einflussreichsten Rebellen noch nicht offen gegen Salvini auftreten, so wackelt sein Posten doch zunehmend. «Für Salvini geht es um das politische Überleben», kommentierte die Turiner Tageszeitung «La Stampa» am Freitag.