McLaren ist Konstrukteurs-Weltmeister und verfügt mit Lando Norris sowie Oscar Piastri über zwei gleich starke Fahrer. Trotzdem hängt vor dem Grand Prix von China der Haussegen bereits schief.
Die Unsicherheit ist auf dem Weg von Melbourne nach Schanghai mit der Formel 1 gereist. Der Saisonauftakt in Australien wurde zum Regenchaos. Es gab deshalb kaum gesicherte Erkenntnisse, die die Teams mit zum Grossen Preis von China an diesem Wochenende nehmen konnten. Abgesehen davon, dass der Konstrukteurs-Weltmeister McLaren tatsächlich ein überlegenes Auto hat und damit Favorit für beide Titel ist. Lando Norris hat das in Australien mit seinem Sieg aus der Pole-Position allen widrigen Umständen zum Trotz bestätigt. Auch wenn in China erst das zweite Rennen ansteht, brechen beim Spitzenreiter erste Konflikte auf.
«Hold position» heisst jener Funkspruch, den alle Rennfahrer fürchten, denn Angreifen ist nun einmal der tiefere Sinn dieses Sports und in jedem Fahrer fest verankert. Oscar Piastri war zur Hälfte des Grossen Preises von Australien drauf und dran, den führenden Teamkollegen Norris einzuholen und dann zu überholen. Bis mitten im Rennen besagte Botschaft vom Kommandostand kam. Ein klarer Fall von Stallorder. Verboten war diese in der Formel 1 nur zeitweise, von 2003 bis 2010. Wieder aufgehoben wurde das Verbot aufgrund der durchaus richtigen Annahme, dass Motorsport eine Mannschaftsdisziplin ist.
Gern gesehen wird der Eingriff in den Wettbewerb trotzdem von niemandem, schon gar nicht im ersten Rennen. Bei McLaren haben sie sich Regeln gegeben, die das Verhältnis zwischen den Fahrern möglichst fair regeln sollen. Demnach haben beide Fahrer prinzipiell freie Fahrt, wenn es jedoch im gemeinsamen Interesse ist, einen Fahrer zu bevorzugen, dann muss sich der andere fügen.
Ist Norris’ Rolle als Nummer 1 schon zementiert?
Wer sich fügen muss, wird von Mal zu Mal entschieden. Das ist ein Resultat dessen, dass die Strategen im Vorjahr viel zu lange Norris und Piastri um die Wette haben fahren lassen. Der Australier Piastri hatte dem in der WM-Wertung aussichtsreicheren Briten Norris im Kampf gegen Max Verstappen wichtige Punkte weggenommen.
Der Eingriff ins Renngeschehen im Albert Park scheint vor allem der Witterung geschuldet, neben der befahrbaren Ideallinie lauerten auf dem Rest der nassen Piste Unwägbarkeiten. Im Zweikampf hätten Piastri und Norris das halbwegs sichere Terrain verlassen müssen und damit schlimmstenfalls ihr Ausscheiden riskiert. Zusätzlich lagen vor den beiden noch Autos, die überrundet werden mussten. Daher kam die Anweisung, den Führenden zu schützen.
Diese wurde erst später, als Piastri sich hatte zurückfallen lassen, wieder aufgehoben. Der 23-Jährige, gerade erst mit einem langfristigen Vertrag ausgestattet, hatte über Boxenfunk nur kurz geklagt: «Ich bin zwar schneller als Lando, aber ich mache es.» Trotzdem wird er fürchten, dass Norris’ Rolle als Nummer 1 zementiert werden könnte.
Senna gegen Prost, Hamilton gegen Alonso: McLaren ist ein gebranntes Kind
Da er nach einem Fahrfehler später nur Neunter geworden war, muss Piastri aufpassen, dass sein Punkterückstand nicht so gross wird, dass Lando Norris automatisch Vorfahrt bekommt. Der McLaren-Teamchef Andrea Stella, ein überlegter Rennleiter, hat in Melbourne in die Mikrofone erboster australischer Journalisten gesagt: «Wir lösen die Handbremse bei Oscar.» Der Italiener wiederholte mehrfach den Hinweis, dass es sich nur um ein temporäres Verbot gehandelt habe.
Stella war anzumerken, wie bemüht er war, die Brisanz aus dem Thema zu nehmen. Beide Fahrer seien informiert gewesen. Lando Norris allerdings sagte in Schanghai: «Sie haben es nur zu Oscar gesagt, nicht zu mir.» Für die Strategie zeigt der WM-Leader Verständnis, nicht nur, weil er der Profiteur war: «Wenn wir gegeneinander gekämpft hätten, und dabei von der Piste abgekommen wären, hätten wir wie Idioten ausgesehen.»
McLaren befindet sich mit zwei gleich starken Fahrern in einer komfortablen Position, einer treibt den anderen an. Deshalb hat es in der letzten Saison auch mit dem Erfolg in der Konstrukteurs-WM geklappt. Doch aus diesem Vorteil kann schnell ein Stallkrieg erwachen. McLaren ist aus Zeiten von Ayrton Senna und Alain Prost ein gebranntes Kind, 2007 wiederholte sich das zwischen Lewis Hamilton und Fernando Alonso. Die Dinge eskalierten damals auf und neben der Strecke, und der Titel ging an Ferrari verloren.
Die Fahrer demonstrieren Einigkeit
Die aktuelle Kein-Risiko-Taktik bedeutet einen erhöhten Gesprächsaufwand für die Verantwortlichen. Der Teamchef Stella spricht von Eintracht, auf und neben der Piste. Auch deshalb war Oscar Piastris Vertrag vorzeitig verlängert worden. Doch Piastri weiss, dass er sich beim Stand von 2:25 Zählern schnell emanzipieren muss. Für den Grossen Preis von China, der mit dem Sprintrennen Möglichkeiten für Punkte bietet, kündigt er an: «Ich freue mich darauf, wieder anzugreifen.»
Er sei zufrieden mit den Gesprächen, die er die Woche über mit seinen Chefs geführt habe, verstehe die Umstände: «Wir haben intensiv diskutiert, wie wir in Zukunft, falls nötig, eine bessere Lösung finden können», sagt Piastri. Sein Manager Mark Webber wird ein Wörtchen mitgeredet haben, er war als Fahrer einst bei Red Bull das Opfer einer Stallorder zu Gunsten von Sebastian Vettel.
Der Kollege Lando Norris hatte bereits in Melbourne gesagt, dass die grösste Stärke von McLaren nicht nur ein gut ausbalancierter Rennwagen sei, sondern der Fakt, dass sie über zwei gleichwertige Piloten verfügten. Zwei, die einen ähnlichen Fahrstil hätten, das Auto in die gleiche Richtung entwickeln könnten und sich gegenseitig antrieben: «Allein das hat uns in der Qualifikation ein zusätzliches Zehntel schneller gemacht.» Die perfekte Harmonie. Bleibt nur abzuwarten, wie lange der Frieden in der Realität des Renngeschehens Bestand hat.