In einem wegweisenden Urteil hat das Zuger Kantonsgericht den Ringier-Verlag zu einer hohen Gewinnherausgabe verpflichtet. Was bedeutet das für die Medien?
Das kürzlich eröffnete Urteil des Zuger Kantonsgerichts hat bis ins Ausland für Aufsehen gesorgt. «Boulevardzeitung muss Ex-Politikerin entschädigen», titelte die ARD. Gemäss dem nicht rechtskräftigen Beschluss der Zuger Richter soll der Ringier-Verlag der ehemaligen Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin den Gewinn abgeben, den er vor zehn Jahren mit vier persönlichkeitsverletzenden Artikeln erzielt hat.
Spiess-Hegglin wurde nach einem Sexualkontakt mit einem SVP-Politiker an der Landammannfeier wochenlang blossgestellt. Der «Blick» spekulierte über eine mögliche Schändung und breitete intime Details aus. Das Kantonsgericht Zug hat den angeblichen Gewinn, den Ringier mit Schlagzeilen wie: «Sex-Skandal in Zug: Alles begann auf der ‹MS Rigi›» erzielt hat, auf Franken und Rappen genau festgelegt.
309 531 Franken sollen es sein, der Ringier-Verlag ging von maximal 5000 aus. Als «bahnbrechend» und «Paukenschlag» gefeiert, hat das Urteil auch Kritik und Befürchtungen ausgelöst. Urs Saxer, Rechtsanwalt und Professor an der Universität Zürich, verfolgt den Fall seit Jahren. Wie beurteilt der Spezialist für Verfassungs- und Medienrecht die jüngste Entwicklung?
Herr Saxer, Medien und Juristen sprechen nach dem Zuger Verdikt von einem bahnbrechenden Urteil, von einem Meilenstein. Sind diese Superlative berechtigt?
Was die Grundausrichtung des Urteils anbelangt: nein. Diese war vorgegeben durch andere Urteile. Es setzt allerdings neue Massstäbe in Bezug auf die Frage, wie man Gewinne durch Persönlichkeitsverletzungen berechnet. Der Detaillierungsgrad ist völlig neu – und beeindruckend.
Das Gericht hat bei jedem Artikel auf den Rappen genau berechnet, wie viel er Ringier eingebracht haben soll. Der Artikel «Jolanda ‹Heggli› zeigt ihr Weggli» soll 3491 Franken zum Print- und 23 194 Franken zum Online-Werbeerlös beigetragen haben. Ist das realistisch?
Man kann das – im wahrsten Sinn des Wortes – nicht für bare Münze nehmen. Es ist ein Versuch einer Annäherung. Dem Gericht bleibt gar nichts anderes übrig. Es ist unmöglich, das auf Heller und Pfennig auszurechnen. Deshalb sind solche Rechnungen mehr theoretischer Natur. Wie soll man etwa bei einem Medium die Mitarbeiterkosten umrechnen auf einen einzelnen Beitrag? Da stellen sich unzählige Fragen. Es ist ein theoretisches Konstrukt für eine Schätzung.
Das Gericht geht davon aus, dass Ringier mit vier Artikeln über 300 000 Franken Gewinn erzielt hat. In der Medienbranche hat das für Kopfschütteln gesorgt. Wenn sich mit Artikeln so viel Gewinn machen liesse, hätte die Branche keine Geldsorgen mehr.
Ich kann dazu nur so viel sagen: Die Wahrheit vor Gericht ist nicht immer gleich wie die Realität.
Wie meinen Sie das?
Das Gericht muss den Betrag festsetzen aufgrund der Angaben der beiden Parteien. Nicht mehr und nicht weniger. Das Gericht darf nicht damit anfangen, von sich aus Abklärungen zu machen. Das sieht das Prozessrecht nicht vor. Es muss sich auf das stützen, was die Parteien vorbringen. Das Obligationenrecht gibt dem Richter danach die Kompetenz, den Betrag nach Ermessen festzusetzen. Die Zahlen, welche die Klägerin Jolanda Spiess-Hegglin vorgebracht hat, haben das Gericht offensichtlich mehr überzeugt als die Einwände von Ringier.
Jolanda Spiess-Hegglin stützte sich auf ein Gutachten, das von rund 430 000 Franken Gewinn ausgeht. Ringier kam auf höchstens 5000 Franken. Was haben die Ringier-Anwälte falsch gemacht?
Ich weiss nicht, ob sie etwas falsch gemacht haben. Es scheint indes, dass sie den Berechnungen der Klägerin zu wenig substanziert entgegengetreten sind. Sie haben sich zu sehr mit allgemeinen Einwänden begnügt, statt konkrete Berechnungen vorzulegen. Dies bringt zumindest das Gericht im Urteil zum Ausdruck.
Das Urteil richtet sich explizit gegen die Boulevardpresse. Es stützt sich auf ein Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2006. Damals klagte der Vater der Tennisspielerin Patty Schnyder gegen Ringier. Sinngemäss stellte das Gericht fest, die Gewinnherausgabe müsse bei der Boulevardpresse leichter einzufordern sein als bei anderen Medien. Denn der Boulevard lebe von potenziellen Persönlichkeitsverletzungen. Ist das legitim?
Ich finde diese Rechtsprechung sehr fragwürdig. Sogenannten Boulevardmedien wird pauschal ein Geschäftsmodell unterstellt, das stets an der Grenze zur Persönlichkeitsverletzung operiere. Es geht nicht, einzelne Medien so zu stigmatisieren. Das einzig korrekte Vorgehen wäre, jeden Artikel darauf zu prüfen, ob er persönlichkeitsverletzend ist und ob damit Gewinn erzielt wurde. Unabhängig vom Medientitel. Derart weit gehende Beweiserleichterungen, die nur im Fall von Boulevardmedien gewährt werden, halte ich für unzulässig.
Warum?
Ich bin nicht generell gegen Beweiserleichterungen. Aber es kann nicht sein, dass es spezielle Erleichterungen bei einer bestimmten Kategorie von Medien gibt. Wer bestimmt denn, was Boulevard ist? Ist «20 Minuten» ein Boulevardmedium? Oder «Inside Paradeplatz»? Es gibt auch boulevardeske Gefässe in Sonntagszeitungen oder im Schweizer Fernsehen. Gleichzeitig ist nicht alles, was im «Blick» steht, reisserisch und potenziell persönlichkeitsverletzend. Wie oft lesen Richterinnen und Richter den «Blick»? Man hat den Eindruck, dass Vorurteile des Gerichts an die Stelle wissenschaftlicher Vergleiche und Inhaltsanalysen treten. So kann man nicht Recht sprechen.
In der Medienbranche wird bereits davor gewarnt, das Urteil gefährde die Medienfreiheit. Es drohe eine Klagewelle. Teilen Sie diese Befürchtungen?
Das Urteil könnte in manchen Medien zu einer gewissen Zurückhaltung führen. Aber derartige Verfahren sind sehr aufwendig. Wenn man das durchziehen will, braucht man einen langen Atem. Was am Schluss herauskommt, weiss man nicht wirklich. Die Medien werden sich wohl vermehrt auf solche Verfahren einstellen – um Argumente gerade in wirtschaftlicher Hinsicht besser zu parieren. Potenzielle Kläger wiederum könnten sich durch das Urteil ermutigt fühlen, zumindest einen Vergleich zu bewirken vor Gericht. Aber deswegen ist die Medienfreiheit noch lange nicht in Gefahr.
Ringier hat angekündigt, das Urteil anzufechten. Wie schätzen Sie die Chancen einer Urteilsrevision ein?
Das Problem für die Beklagten ist, dass im Berufungsverfahren nur in sehr reduziertem Rahmen neue Beweismittel eingebracht werden können, was gerade mit Bezug auf die finanziellen Fragen eine Rolle spielen könnte. Man kann aber die Methodik der Berechnung des Gerichts angreifen. Nicht, dass es keine Chancen gibt. Aber es wird wohl eher schwierig werden.