In einem Jahr wählen die Deutschen eine neue Regierung. Die Kanzlerpartei SPD will Wähler gewinnen, indem sie höhere Steuern für «Besserverdienende» fordert. Sie schiesst vor allem gegen den CDU-Chef Friedrich Merz.
Die SPD erreicht immer weniger Wähler: Zurzeit können sich nur 16 Prozent der Wahlberechtigten vorstellen, ihr Kreuz bei den Sozialdemokraten zu setzen. Jetzt will sich die Partei zum Bundestagswahlkampf in einem Jahr programmatisch neu aufstellen. Laut einem Beschluss des Parteivorstands vom Sonntagabend fordert sie höhere Steuern für «Besserverdienende» mit einem Gehalt von über 15 000 Euro monatlich.
Derweil sollen 95 Prozent der Arbeitnehmer steuerlich entlastet und der Mindestlohn auf 15 Euro angehoben werden. Die SPD plant darüber hinaus steuerliche Vergünstigungen für Unternehmen, die in moderne Industriearbeitsplätze in Deutschland investieren. In dem sechsseitigen Papier, das der NZZ vorliegt, polemisieren die Sozialdemokraten aber vor allem gegen einen Gegner: Friedrich Merz. Olaf Scholz oder Friedrich Merz – vor diese Alternative wollen sie die Deutschen stellen. Dass man sich durchaus fragen muss, ob die SPD bei den Bundestagswahlen überhaupt noch zweitstärkste Kraft wird, bleibt dabei unbeachtet.
Dem Kanzlerkandidaten der Union werfen die Sozialdemokraten vor, er beschimpfe Beschäftigte als «faul» und seine Partei sehe in migrantischen Arbeitnehmern pauschal ein «Problem». Seinen wirtschaftspolitischen Ansatz bringen sie auf die stereotype Formel: «Mehr Kapitalismus wagen.» Seine Konzepte seien «Lohnzurückhaltung, Sozialabbau, Rentenkürzungen, die Einschränkung des Streikrechts, die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur» sowie «die Streichung öffentlicher Investitionen». Sollte es letztlich doch zu einer «grossen Koalition» zwischen Sozial- und Christlichdemokraten kommen, müsste die SPD das Negativbild ihres Gegenkandidaten wohl schnell hinter sich lassen.
Merz: nicht «Besserverdienende», sondern Leistungsträger
In der ARD-Talkrunde von Caren Miosga sagte Merz, was er von diesem Papier hält. Noch mehr Mittelständler könnten ins Ausland abwandern, gab er zu bedenken. Denn wenn man das umsetze, was die SPD beschlossen habe, nämlich «95 Prozent entlasten, ein Prozent belasten», dann bedeute das für das eine Prozent «60 Prozent Steuerlast plus». Dabei handle es sich bei dem einen Prozent um die «Leistungsträger» der Gesellschaft, unter ihnen mittelständische Unternehmer und Handwerksbetriebe.
Auffällig ist auch, welche Themen in der sozialdemokratischen Beschlussvorlage nicht erwähnt werden: Die Migrationskrise kommt nicht vor, das SPD-Prestigeprojekt «Bürgergeld» auch nicht. In beiden Fragen steht die Kanzlerpartei zurzeit nicht gut da. Das neueste «Sicherheitspaket» der Bundesregierung musste in entscheidenden Punkten entschärft werden. Dass Transferleistungen bis zuletzt immer wieder erhöht wurden – fast die Hälfte der Empfänger sind inzwischen Ausländer –, macht die Partei unter Arbeitnehmern nicht gerade beliebter. Laut einer Umfrage des Forsa-Instituts waren selbst unter SPD-Anhängern jüngst 71 Prozent für die Verschärfung beim Bürgergeld.
Mit ihrer neuen Programmatik wollen die Sozialdemokraten zwar wieder als Arbeiterpartei wahrgenommen werden. Sie umschiffen dabei aber mehrere Themen, die den Wahlkampf entscheiden könnten. Stattdessen setzen sie auf klassische sozial- und industriepolitische Forderungen, verbunden mit dem erneuerten Versprechen einer «zielführenden Reform» der Schuldenbremse.
Christian Lindner warnt vor «gelenkter Verwaltungswirtschaft»
Geht es nach den Sozialdemokraten, soll mit den neuen Schulden mehr in Energieinfrastruktur, Digitalwirtschaft und Bildung investiert werden. Zusätzlich soll ein «Deutschland-Fonds» privates und öffentliches Kapital für Zukunftsinvestitionen bündeln. Die SPD erhofft sich davon, dass Deutschland nach zwei Jahren ohne Wachstum einen «neuen Aufschwung» schafft, von dem «alle» profitieren würden.
Die SPD will zudem Kaufprämien bei Elektroautos durchsetzen. Sie begründet das damit, dass die Zukunft des Autolandes Deutschland in der E-Mobilität liege. Es brauche kurzfristig mehr bezahlbare Modelle, damit die Automobilwirtschaft in Schwung komme und Deutschland auf dem Weltmarkt konkurrieren könne. Offen ist allerdings, ob diese Subvention zur Produktion billigerer Modelle anregt. Darüber hinaus soll die Industrie von niedrigeren Netzentgelten profitieren.
Als Reaktion auf das SPD-Papier mahnte der Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner auf der Plattform X (vormals Twitter), in der nächsten Wahl entschieden die Bürger über die Alternative «gelenkte Verwaltungswirtschaft oder soziale Marktwirtschaft».
Was er damit sagen will: Die Liberalen stünden nicht dafür bereit, dass der Staat «mit Schulden Subventionen für geplante Investitionen an die Wirtschaft zahlen» solle. Die Entlastung für die Mehrheit der Steuerzahler soll vielmehr «durch eine weitere Bürgergeldreform» sowie «die Unterbindung irregulärer Einwanderung in den Sozialstaat» zustande kommen. Damit ist auch für die Liberalen der Wahlkampf eröffnet.