In vierzehn Jahren haben die Tories in Sachen Wirtschaft wenig erreicht – nicht nur wegen einer Serie von ungeplanten Jahrhundertereignissen.
Rishi Sunak setzt in der Kampagne vor der Unterhauswahl vom 4. Juli nicht zuletzt auf die Wirtschaftspolitik. Der Premierminister und ehemalige Investmentbanker geht davon aus, dass er seinen Herausforderer Keir Starmer von der Labour-Partei in den TV-Debatten mit seinem Sachverstand in den Schatten stellen kann. Dabei argumentiert er mit der gesunkenen Inflation und dem in jüngster Zeit steigenden Wirtschaftswachstum; eine Labour-Regierung würde die sich abzeichnende Erholung gleich wieder aufs Spiel setzen.
Mittelklasse fällt zurück
Sunaks Problem ist allerdings, dass die Bilanz der vierzehnjährigen Regierungszeit seiner Konservativen Partei mager ausfällt. Den Britinnen und Briten geht es schlechter als im Jahr 2010, als David Cameron den letzten Labour-Premierminister Gordon Brown von der Macht verdrängte.
Laut einer Studie der London School of Economics ist der Wohlstand der britischen Mittelklasse in den letzten fünfzehn Jahren deutlich hinter jenem in Deutschland und Frankreich zurückgefallen. Die Lohnstatistiken bestätigen dieses Bild. Zwar sind die Nominallöhne im Zuge der Inflation angestiegen. Doch die realen Durchschnittseinkommen stagnieren und haben sich erst kürzlich vom Einbruch nach der Finanzkrise erholt.
Der Aussenminister James Cleverly erklärte die Stagnation jüngst gegenüber der BBC mit dem Umstand, dass die Konservative Partei gleich mehrere Jahrhundertereignisse zu bewältigen gehabt habe. Nachdem die Finanzkrise von 2008 ein riesiges Loch in die Staatskasse gerissen hatte, folgten die Brexit-Turbulenzen, die Pandemie sowie der Krieg in der Ukraine und seine Folgen für die Energiepreise.
Auch personell blieb während der vierzehn Jahre konservativer Regierung kein Stein auf dem anderen. Auf Camerons Spar- und Konsolidierungspolitik folgten das Brexit-Votum von 2016 und eine Phase grosser Unsicherheit. Theresa Mays mitfühlender Konservatismus mündete in die Ära Boris Johnsons, der das Geld bereits vor der Pandemie mit beiden Händen ausgab.
Das Chaos gipfelte im Herbst 2022 in einer veritablen Krise an den Finanzmärkten, die Johnsons Nachfolgerin Liz Truss mit ihren Plänen für ungedeckte Steuersenkungen ausgelöst hatte. Sunak erklärt heute, er habe das Land nach den Turbulenzen auf einen Stabilisierungskurs geführt, der nun Früchte zu tragen beginne. Dass seine Parteikollegin und Vorgängerin die Turbulenzen erst provoziert hatte, verschweigt er. Dafür erinnert Starmer die Wählerschaft bei jeder Gelegenheit an Truss’ 45 Tage als Premierministerin und erklärt, die Tories hätten die Kontrolle über die Wirtschaft verloren.
Tiefes Wachstum, hohe Migration
Auch der Brexit ist für die Tory-Partei kein Ruhmesblatt. Zwar sind die von den Brexit-Gegnern heraufbeschworenen Schreckensszenarien nicht eingetreten. Doch auch die von Johnson und seinen Gefährten versprochenen Brexit-Früchte blieben ein Phantom. In einer neuen Studie kommt die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs vielmehr zu dem Schluss, Grossbritannien sei in den letzten acht Jahren wegen des Brexits um fünf Prozentpunkte weniger stark gewachsen als vergleichbare Volkswirtschaften.
Zwar hat sich der Export von Dienstleistungen gut entwickelt. Doch im Güterhandel konnte das Land die neuen Barrieren zum EU-Markt bisher nicht mit einer globalen Neuausrichtung seiner Handelsströme kompensieren. Goldman Sachs schätzt, dass das gesamte Handelsvolumen Grossbritanniens heute etwa 15 Prozent geringer ist, als wenn das Land in der EU verblieben wäre. Im Wahlkampf spielt die dürftige Bilanz des Brexits aber kaum eine Rolle. Die Labour-Partei will die Europadebatte auf keinen Fall neu aufwärmen – aus Angst, dies könnte ihre Wählerschaft spalten.
Im Durchschnitt ist die britische Wirtschaft seit 2010 bloss um 1,4 Prozent pro Jahr gewachsen – in der letzten Legislatur betrug das Wachstum sogar bloss 0,4 Prozent. Zum Vergleich: Zwischen 1973 und 2008 waren es durchschnittlich 2,3 Prozent pro Jahr gewesen. Die Ursachen der Stagnation reichen weit über den Brexit hinaus. Viele Experten diagnostizieren die chronisch tiefe Produktivität als schlimmste Krankheit des britischen Patienten.
Dass die Wirtschaft in den letzten Jahren überhaupt wuchs, ist auch eine Folge der Migration. Im Jahr 2022 wanderten 764 000 Menschen mehr nach Grossbritannien ein, als das Land verliessen – ein absoluter Rekordwert. 2023 sank die Nettomigration zwar leicht. Doch ist sie dank Zuwanderern aus Ländern wie Indien, Nigeria oder den Philippinen noch immer rund doppelt so hoch wie zu den Spitzenzeiten vor dem Brexit. Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als die Tories dem Volk mit dem Ende der EU-Personenfreizügigkeit eigentlich eine Reduktion der Zuwanderung in Aussicht gestellt hatten.
Als Erfolg können die Konservativen auf die tiefe Arbeitslosigkeit verweisen. Allerdings kompensiert die hohe Migration den akuten Mangel an einheimischen Fachkräften. Besorgniserregend ist die steigende Quote der inaktiven Bevölkerung. Mittlerweile sind 9,4 Millionen oder 22 Prozent der Britinnen und Briten im erwerbsfähigen Alter aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden, ohne dass sie sich um eine neue Anstellung bemühen würden.
Zu tiefe Investitionen
Wenig schmeichelhaft fällt die Bilanz der Haushaltspolitik aus. Zwar betonen die Tories immer wieder ihren Willen, die Steuern zu senken. In Tat und Wahrheit aber hat die Steuerlast in den letzten Jahren zugenommen, im laufenden Jahr dürfte sie so hoch ausfallen wie seit 1949 nicht mehr. Da die steuerlichen Einkommensschwellen trotz Inflation und steigenden Nominallöhnen unverändert blieben, rutschen zudem viele Arbeitnehmer in eine höhere Progressionsstufe.
Verschlungen wird das viele Geld von den Sozial- und Gesundheitsausgaben, die als Folge der alternden Bevölkerung zunehmen. Die Regierung hat die Gelder für den steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) in den letzten zehn Jahren von 9,7 auf 11,3 Prozent der Wirtschaftsleistung erhöht. Dennoch ist der staatliche NHS ineffizienter denn je: Fast ein Fünftel der Bevölkerung befindet sich auf einer der vielen Wartelisten, da die benötigte Behandlung nicht unmittelbar verfügbar ist.
In seiner ersten grossen Rede nach seiner Wahl zum Premierminister im Jahr 2010 grenzte sich David Cameron von seinen Labour-Vorgängern ab. Er erklärte, der riesige Schuldenberg sei ein Symptom einer verfehlten Wirtschaftspolitik. Dank einer rigiden Sparpolitik gelang es ihm, den Haushalt zu stabilisieren.
Allerdings zeigen sich heute auch die Folgen der ausgebliebenen Investitionen – von der veralteten Kanalisation bis hin zu bankrotten Gemeinden. Auch die Unternehmensinvestitionen haben sich nie vom Einbruch nach der Brexit-Abstimmung erholt. Laut einer Studie der London School of Economics liegt die öffentliche und private Kapitalbildung in Grossbritannien um fast 5 Prozent hinter dem Durchschnitt der G-7-Länder zurück.
Doch für mehr öffentliche Investitionen fehlt das Geld, denn Grossbritannien lebt bereits über seinen Verhältnissen. Ein konsequenter Sparkurs ist politisch schwierig zu verkaufen, eine Finanzierung über mehr Schulden wäre nur mit einer Lockerung der Haushaltsregeln möglich. Doch steckt den Briten der Schock der Marktreaktion auf die Schuldenpläne von Liz Truss noch immer in den Knochen.
Ohnehin haben sich die Defizite der letzten Jahre bereits zu einem Schuldenberg angehäuft. 2024 dürfte die Verschuldung 97,9 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen – so stark in der Kreide war das Land seit den frühen 1960er Jahren nicht mehr gewesen. Grossbritannien steckt in einem Korsett von hohen Steuern und hohen Schulden. Dies würde auch den Handlungsspielraum einer allfälligen Labour-Regierung stark begrenzen.