Mario Levis Romane sind voll von Geschichten über Istanbul und die Menschen, die dort leben. Als Sohn jüdischer Eltern lagen ihm besonders die Minderheiten am Herzen. Nun ist er 66-jährig gestorben.
Wie schreibt man Geschichten über Trennungen, Verluste, Liebe und Schmerz von Menschen in einer vielfältigen Gesellschaft? Indem man all die feinen Facetten der Charaktere beschreibt, aber auch die Orte, in denen sie sich befinden. So schilderte der türkisch-jüdische Schriftsteller Mario Levi die Protagonisten in seinen Romanen und Geschichten, die oft vom Leben und von Schicksalsschlägen nichtmuslimischer Minderheiten Istanbuls handeln.
Dabei drückte er ihre Gefühlswelt aus, indem er ihre Umgebung beschrieb. Ihre Wohnungen, ihre Stadtviertel und vor allem Istanbul in all seinen Widersprüchen und Geheimnissen. So handelt der Roman «Istanbul war ein Märchen», an dem er sechs Jahre lang schrieb, von den Erinnerungen Levis an die Lebenswelten der jüdischen, griechischen und armenischen Bewohner der Stadt, seinen Eindrücken von ihnen und seinen Erfahrungen.
Konfrontation mit Vergangenem
Istanbul wurde vor über 500 Jahren zur neuen Heimat von Levis jüdischen Vorfahren, die während der Reconquista aus Spanien ins Osmanische Reich geflüchtet waren. Das historische Istanbul spielt in seinem Werk eine grosse Rolle. Der Blick in die Vergangenheit dürfe aber nicht als Nostalgie verstanden werden, sagte er selbst. Sondern als Konfrontation mit dem Vergangenen, das in der Gegenwart fortwirke.
Mario Levi, der 1957 in Istanbul zur Welt kam, lehrte an der Yeditepe-Universität Istanbul Kommunikationswissenschaft. Et befasste sich mit Storytelling und Werbetexten und war fasziniert von Sprache in jeder Form. An einem Schreibatelier mit ihm, an dem ich teilnahm, sprach er mit uns über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf den Literaturbetrieb, gab zu, dass Rapmusik nichts für ihn sei, aber dass er die Lyrik «dieser Jungs» nicht so unklug finde.
Seine Sanftmut, seine Höflichkeit und Wärme waren beeindruckend. Und vor allem seine Leidenschaft für das Lehren vom Schreiben. Dabei lehrte er uns weniger das Schreiben, als dass er vor allem an die Bedeutung des Schreibens als Prozess der inneren Auseinandersetzung erinnerte. Und als Mittel, aus den eigenen Erfahrungen etwas Neues zu erschaffen.
Literatur war für Levi immer autobiografisch. Aber er hielt die Erlebnisse, die Menschen machen, die Sprachen, mit denen sie aufwachsen, für prägender als das, was ihnen angeboren ist. Diese Identität verstand er als fliessend, war aber davon überzeugt, dass sie uns trotzdem Halt gibt.
Das tiefe Vaterland
Er drückte es einmal in einem Satz von Günter Grass aus: «Es gibt keine deutsche Literatur. Es gibt nur deutschsprachige Literatur.» Der Satz gefiel ihm, weil er die Sprache für jeden öffnet, der sie beherrschen möchte – unabhängig von seiner Herkunft. Obwohl Levi auch Spanisch und Französisch fliessend beherrschte, entschied er sich, nur auf Türkisch zu schreiben.
So milderte er seine innere Zerrissenheit zwischen den Sprachen und Kulturen mit dem einzigen Patriotismus, den er hatte: dem gegenüber der türkischen Sprache. In einem Interview sagte Levi einmal: «Deine Sprache ist die, die du als Kind auf der Strasse beim Fussballspielen gesprochen hast, die, in der du als Jugendlicher deine erste Liebe erlebt hast, die Sprache, in der du am liebsten schimpfen würdest, wenn du sehr verärgert bist. Und deshalb sage ich stets zu mir selbst: Mein tiefstes Vaterland ist die türkische Sprache.»
Eine schöne Hommage an die türkische Sprache, für ein Land, das vielfältig ist in seinen Kulturen, Sprachen und Religionen und das genau in dieser Vielfalt politisch so gespalten ist. Das Zitat wurde berühmt, weil es wohltuend für das politische Leid von Andersdenkenden, Minderheiten und Dissidenten ist. Levi starb am 31. Januar in Istanbul an einer Krebserkrankung, gegen die er lange gekämpft hatte.