Latife Arab wuchs in einer kriminellen arabischen Grossfamilie auf. Ihr Alltag war geprägt von Prügel, illegalen Geschäften, Zwangsheirat, Flucht. Nun erzählt sie ihre Geschichte. Sie riskiere ihr Leben, sagt sie.
Als Kind hörte Latife Arab die Erwachsenen von «Almanya» reden. Es waren die 1980er Jahre, und sie lebte damals mit ihren Eltern und den Geschwistern im Süden der Türkei. In Almanya würden Maschinen die Wäsche waschen und das Geld liege auf der Strasse, sagten die Leute. Nachbarn verkauften ihr Vieh, verliessen die anatolischen Berge und wanderten nach Deutschland aus.
Sie war fünf, da brach auch ihre Familie auf in das verheissungsvolle Land mitten in Europa. Mit gefälschten Pässen, die man noch am Flughafen in Deutschland zerriss und die Toilette hinunterspülte, um keine vorzeitige Abschiebung zu riskieren. Der kleinen Latife fielen die Frauen auf, die Hosen, aber kein Kopftuch trugen. Und wie sauber alles war.
Dass das Geld nicht auf der Strasse lag, merkte sie bald. Aber ihre Familie erhielt auch so die finanzielle Unterstützung, die ihr ein gutes Leben ermöglichte. Mit jedem Kind gab es mehr Geld vom Sozialamt. Neun Kinder gebar ihre Mutter insgesamt. Jede Schwangerschaft schützte die Familie davor, ausgewiesen zu werden.
Nach acht Monaten im Flüchtlingsheim wurde der Familie eine Wohnung zugeteilt. Der Asylantrag blieb weiterhin hängig. «Das hielt meine Eltern nicht davon ab, immer dreistere Forderungen zu stellen – und den deutschen Staat, sie zu erfüllen.» So erinnert sich Latife Arab an ihre ersten Jahre in Deutschland.
Nur die Familienehre zählt
Latife Arab ist heute knapp über vierzig, der Name ein Pseudonym, unter dem sie ein Buch über ihr Leben geschrieben hat. In «Ein Leben zählt nichts» erzählt Arab vom Aufwachsen in einem arabischen Clan, von ihrer Zwangsheirat und ihrer Flucht als junge Frau. Arab lebt heute an einem unbekannten Ort. Frei, wie sie sagen würde – aber unter ständiger Bedrohung. Ihre Familie könnte sie, die Aussteigerin, ausfindig machen.
Jetzt, da sie ihre Geschichte veröffentlicht, riskiert sie noch mehr. Denn sie gibt Einblick in ein kriminelles System, das sich, so schreibt sie, ungehindert ausbreiten konnte in Deutschland. Dies dank Strukturen, die parallel zur Gesellschaft existieren.
«Die Namen meiner Verwandten liest man in der Zeitung, ihre Geschichten sieht man im Fernsehen. Meine Familie steht für Menschenhandel, Schutzgelderpressung, Drogengeschäfte, Raub, Geldwäsche», so stellt Arab ihre Familie vor. Vor der Polizei habe man keinen Respekt, die «Ehre» der Familie stehe über allem.
Sie sei sich bewusst, schreibt mir Latife Arab im schriftlichen Interview, dass sie sich mit dem Buch noch stärker exponiere. «Ich spiele mit meinem Leben.» Dennoch könne sie nicht mehr schweigen. Sie habe ein Recht, zu sprechen. Sie habe ihre Stimme gefunden.
Der «deutsche Schweinestaat» zahlt
Als Mädchen hatte sie in ihrer Familie nichts zu sagen. Sie musste ihrer Mutter im Haushalt helfen und ihre Brüder bedienen. Sie wusste, was ihr, sobald sie in der Pubertät war, jederzeit blühen konnte: verheiratet zu werden. Ihre Grossmutter hatte sie früh auf diese Bestimmung vorbereitet mit den Worten: «Betrachte das Ganze als Geschäft. Man kann ein Mädchen nur weiterverkaufen, wenn es unbeschädigt ist.»
Schon früh bekam sie mit, dass Frauen, die sich nicht fügten, keine Chance hatten. Eine Tante in der Türkei zündete sich an und starb: Sie sah keinen anderen Ausweg mehr, ihrem gewalttätigen Ehemann zu entkommen. Auch Latife und ihre Geschwister wurden von den Eltern geschlagen. Der Vater verprügelte auch die Mutter. Die Mutter nahm es hin.
Den Kindern blieb ebenso wenig verborgen, dass der Clan mit illegalen Geschäften viel Geld verdiente. Hausdurchsuchungen, U-Haft, Abschiebungen. Latife Arab wurde als Kind selber eingespannt für die kriminellen Taten. Einmal musste sie als Kurier Geld überbringen, das man in Bündeln mit Klebeband an ihrem Körper befestigte.
Das Geld wie auch die Sozialleistungen schickte die Familie in die Türkei, damit die Verwandten nachkommen konnten. Oder diese kauften sich Eigentumswohnungen – bezahlt vom «deutschen Schweinestaat». Das sei die Denkweise ihrer Familie, schreibt Arab, und die Erfahrung gebe ihren Angehörigen recht: Man könne den deutschen Staat «ohne Scham ausnehmen und verlachen».
Sie wundere sich selbst, wie jemand vierzig Jahre Sozialhilfe beziehen könne, ohne dass dies jemand hinterfrage, sagt Latife Arab. Und auf die Frage, wie sie sich das erkläre: «Ich erinnere mich an Situationen, in denen meine Mutter auf dem Sozialamt die Nazi-Karte zog.» Die Deutschen als Nazis zu betiteln, schien zu wirken.
Latife Arab begleitete ihre Mutter, die bis heute kein Deutsch spricht, oft bei den Behördengängen. Die Familienangehörigen hätten auch Einschüchterung angewandt, sagt sie, oder Beamte, Zeugen und Opfer bestochen, damit diese ihre Aussagen zurückzogen oder änderten. Ihr Vater sass mehrfach in U-Haft, sei aber nie verurteilt worden. Manchmal trat sie in Gerichtsverfahren selber als Zeugin auf, genötigt von ihrer Familie, diese als Opfer darzustellen und zu lügen.
Vergewaltigt in der Ehe
Mit achtzehn wurde Latife Arab mit dem Sohn von Verwandten zwangsverheiratet, und es begann ein neues Martyrium. Schläge, Erniedrigungen, Sex zum Zweck, möglichst bald schwanger zu werden. Suizidgedanken. Siebenmal flüchtete sie ins Frauenhaus, später mit ihren drei Kindern, die sie inzwischen hatte.
Sechsmal kehrte sie zu ihrer Familie zurück. Gerade ihre Geschwister bedeuteten ihr viel, als ältestes Kind wollte sie sie beschützen. Heute hat sie auch zu ihnen keinen Kontakt mehr. Es wäre zu gefährlich.
Hört man Latife Arabs Geschichte, fragt man sich, weshalb sie von den deutschen Behörden so wenig Unterstützung erhielt. Sie zeigte oft körperliche Spuren der Gewalt, musste deswegen sogar in Spitalpflege. Die Nachbarn wurden Zeugen der handgreiflichen Auseinandersetzungen, Ärzte behandelten sie, als sie schwanger war. Aber schon als Kind in der Schule schienen die Lehrer untätig zu bleiben. Warum kam ihr niemand zu Hilfe?
«Der Name eilt der Familie voraus», antwortet sie. Viele Leute hätten wohl Angst gehabt. «Hätte es eine Behörde gewagt, sich meinen Eltern entgegenzustellen, hätten diese mit ihren hochbezahlten Anwälten gedroht.»
Latife Arab erlebte oft einen bürokratischen Hindernislauf durch die Ämter. Damit ein Amt ihrer Familie keine Auskunft gegeben hätte, hätte sie schriftlich nachweisen müssen, dass sie in Gefahr sei, mit einem Gerichtsbeschluss etwa. «Ein blaues Auge ist kein ausreichender Beleg.» Ihre Familie konnte sie so leicht ausfindig machen.
Hätte sie das Gefühl gehabt, dass die Behörden sie und ihre Kinder schützen würden, hätte sie gegen ihre Familie ausgesagt, schreibt sie. So aber fehlte ihr der Mut.
Zu viel Rücksicht auf die Religion
Vieles, was Latife Arab beschreibt, tönt unglaublich. Man kennt solche Geschichten über organisierte Gewalt aus Krimiserien. In «4 Blocks» regieren die Brüder Hamady Berlin-Neukölln. Ähnlich drastisch sind die Schilderungen von Arab. Manches klingt fast stereotyp. Doch Clans, die keine Angst vor dem Rechtsstaat haben, sind in Deutschland eine Realität. Der Verlag bürgt zudem für die Authentizität der Geschichte. Auch Medien liessen Teile ihres Buchs überprüfen und bestätigten sie.
Eine entfernte Cousine, so schreibt Latife Arab, wurde 2008 an einer Autobahnraststätte ermordet. Die junge Frau hatte sich gegen ihre Kultur und Religion und für ein westliches Leben entschieden. Es war ein Ehrenmord. Man kann den Fall googeln. Er wurde landesweit bekannt.
Irgendwann gelang Arab die Flucht. Heute hat sie mit ihrem Lebenspartner, einem Deutschen, ein weiteres Kind. Die älteste Tochter schreibt gerade ihre Masterarbeit. Auch für ihre Töchter, sagt sie, habe sie schliesslich den Bruch gewagt. Für ihre kleine Familie habe sie überhaupt immer wieder die Kraft gefunden, weiterzuleben.
Die Aufklärung über die toxischen Strukturen in arabischen Grossfamilien wie der ihren müsste bereits in der Grundschule beginnen, schreibt sie im Interview. Arab durfte nicht am Sexualunterricht teilnehmen und nicht beim Sport. Ihre Eltern untersagten es ihr.
Das sei für sie wie eine Strafe gewesen, sagt Arab. «Wenn die Schulpflicht für alle besteht, sollte das auch den Schwimm- oder den Biologieunterricht umfassen.» Im Gegensatz zu ihren Eltern hätte ihre Generation gute Integrationschancen gehabt. Sie selber erhielt als junge Frau bald die deutsche Staatsbürgerschaft, weil sie so gut Deutsch sprach.
Latife Arab definiert Freiheit heute anders als die meisten. Frei zu sein, bedeutet für sie: einkaufen gehen. Anziehen, was sie will. Sich mit Freunden treffen. Sie sagt aber auch: «Ich trage die Kultur weiter in mir.»
Sie geht morgens unter die Dusche und denkt erschreckt: Die Sonne ist schon aufgegangen. Im Bett tönt das islamische Gebet in ihrem Kopf, das Muslime vor dem Einschlafen aufsagen. Sie ertappt sich dabei, wie sie ihre Töchter bitten möchte, dem Bruder ein Glas Wasser zu holen. Aussteigen heisst nicht loskommen.
Latife Arab: Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan. Heyne, München 2024. 256 S., Fr. 33.90.–.