Gleiches Stimmrecht für alle – der Nationalrat will eine Diskriminierung in der Verfassung beseitigen. 16 000 Erwachsene sind betroffen.
Mit 109 zu 68 Stimmen bei 16 Enthaltungen hat sich der Nationalrat am Montag deutlich dafür ausgesprochen, Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nicht länger vom Stimm- und Wahlrecht auszuschliessen. Die Vorlage zur Änderung von Artikel 136 der Bundesverfassung wurde von der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N) eingereicht – mit einem haarscharfen Stichentscheid ihrer Präsidentin Greta Gysin (Grüne, Tessin).
16 000 von der politischen Teilhabe ausgeschlossen
Noch heute enthält die Bundesverfassung einen Passus, der Folgendes festhält: Politische Rechte stehen nur jenen Schweizerinnen und Schweizern zu, «die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind». Die Formulierung schliesst rund 16 000 Menschen in der Schweiz vom politischen Prozess aus – automatisch und ohne Einzelfallprüfung.
Die Art, wie die Schweizer Behörden Behinderten die politischen Rechte entziehen, ist umstritten. Das Vorgehen gilt für viele Experten als Verstoss gegen die Uno-Behindertenrechtskonvention, der die Schweiz 2014 beigetreten ist. Diese sieht vor, dass Behinderte gleichberechtigt am politischen Leben teilnehmen können und sich bei der Stimmabgabe von einer Person ihrer Wahl unterstützen lassen können.
In der Debatte am Montag waren die Parlamentarier denn auch mehr oder weniger parteiübergreifend der Meinung, diese pauschale Ausschlussregelung sei mit den Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit und mit dem Gleichheitsgebot kaum mehr vereinbar. Vertreter der SVP und Teile der FDP warnten allerdings vor Missbrauch und Manipulation. Benjamin Fischer (SVP, Zürich) betonte, dass Menschen unter umfassender Beistandschaft im Sinne des Zivilgesetzbuches in eigenen Angelegenheiten nicht handlungsfähig seien – auch nicht im Rechtsverkehr.
Bundesrat unterstützt das Anliegen
Demgegenüber verwies Justizminister Beat Jans auf den hohen Stellenwert politischer Rechte für Menschen mit Behinderungen sowie auf die wachsende Diskrepanz zwischen Praxis und Verfassungsrecht. In der Motion gehe es um ein aktuelles und wichtiges Anliegen, um die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Jans sagte: «Wählen und abstimmen zu dürfen, bedeutet Menschen mit Behinderungen viel. Es verkörpert eine Möglichkeit, selbstbestimmt an unserem politischen und gesellschaftlichen Leben aktiv teilnehmen zu können.»
Weiter erinnerte der Justizminister daran, dass man auf kantonaler Ebene das Stimmrecht für Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung schon kenne: Vor vier Jahren sagten die Genfer Stimmberechtigten mit 75 Prozent klar Ja zu dem Anliegen. Dem Beispiel Genfs folgte der Kanton Appenzell Innerrhoden, der das Stimm- und Wahlrecht auch für Menschen mit Beistand in der neuen Verfassung verankerte. Im Kanton Zürich ist eine Behördeninitiative hängig, in Luzern werden für eine Initiative Unterschriften gesammelt, und im Kanton Zug läuft dazu eine Vernehmlassung. Der Bundesrat empfahl die Motion auch deshalb zur Annahme.
Bereits in der zuständigen Kommission war eine Mehrheit der Ansicht gewesen, dass eine Beistandschaft – oft aus finanziellen Gründen eingerichtet – kein Grund sei, um Menschen die politischen Rechte abzusprechen. Der EVP-Nationalrat Marc Jost (Bern), der die Motion eingebracht hatte, spricht von einem «Meilenstein» auf dem Weg zur Gleichstellung. In seinen Augen widerspricht der bisherige Ausschluss dem Grundsatz der allgemeinen Staatsbürgerrechte und der Uno-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz ratifiziert hat.
Am Schluss entscheidet das Volk
Sollte sich der Ständerat dem Nationalrat anschliessen, liegt der Ball beim Bundesrat, der die Verfassungsänderung auszuarbeiten hätte. Und wie bei allen Verfassungsänderungen wird letztlich das Stimmvolk entscheiden müssen.