Archäologen haben in Frankreich zwei merkwürdig verdrehte Skelette ausgegraben. Sie glauben, die Frauen seien im Rahmen eines Rituals getötet worden – in einem Fall mit einer Methode, die heute vor allem von der Mafia bekannt ist.
Der Strick darf nicht zu lang sein, und man muss gute Knoten machen können. Man dreht den Menschen auf den Bauch, bindet ihm das eine Ende des Stricks um die Füsse und das andere um den Hals. Und dann wartet man, bis der Mensch sich selbst erdrosselt hat.
Alle Arten, einen Menschen gewaltsam zu töten, sind furchtbar. Dass die Methode mit dem Strick um Hals und Füsse besonders grausam ist, sieht man daran, dass die italienische Mafia sie bei angeblichen Verrätern anwendet. Aber sie ist keine neue Erfindung: Archäologen haben sie auch bei einem mehr als 6000 Jahre alten Skelett aus Frankreich festgestellt, wie sie jetzt in einer Studie in «Science Advances» schreiben. Sie gehen davon aus, dass die Frau zusammen mit mindestens einer weiteren Person als Menschenopfer starb – und dass das zu der damaligen Zeit häufiger vorkam.
Das mittlere Neolithikum im heutigen Südfrankreich, 4250–3500 v. Chr., ist keine Zeit, über die man besonders viel weiss, und was man bisher wusste, wirkte nicht besonders aufregend. Der Übergang von den umherziehenden Jäger-und-Sammler-Gesellschaften des Mesolithikums zu den sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern des Neolithikums war seit fast 2000 Jahren vollzogen. Die Menschen hielten Schafe, ein paar Ziegen, Rinder, Schweine und Hunde, sie bauten Weizen, Gerste und Hülsenfrüchte an und lagerten sie in Vorratsgruben.
Diese Vorratsgruben, in denen sich Getreide monatelang vor Tieren und Schimmel geschützt aufbewahren lässt, dienten manchmal noch einem anderen Zweck: der Bestattung von Toten. Manchmal wurde den Verstorbenen ein Mahlstein mit ins Grab gelegt, sei es als Hinweis auf einen wichtigen Teil ihres nun beendeten Lebens, sei es als Ausrüstung für ein Leben im Jenseits. Daran ist nichts ungewöhnlich.
Auch bei der Ausgrabung einer mittelneolithischen Fundstelle in Saint-Paul-Trois-Châteaux an der Rhone wurden die Reste dreier Menschen in einer Vorratsgrube gefunden, und auch bei ihnen lagen Mahlsteine. Doch an diesen Toten ist nichts gewöhnlich.
Drei tote Frauen in einer Grube und das Licht der Sonnenwende
Der Rechtsmediziner Bertrand Ludes und eine Gruppe von Archäologen haben sie untersucht. Sie beschreiben die Situation so:
Über zwei Gruben im Boden soll sich einst ein fast zwanzig Meter langes ovales Gebäude erhoben haben. Dieses sei an beiden Enden offen und auf die Sonnenwenden ausgerichtet gewesen: Am Tag der Sommersonnenwende soll die Sonne auf der einen Seite hereingeschienen haben, bei der Wintersonnenwende auf der anderen.
Eine der Gruben war genau so angelegt wie eine Vorratsgrube, sie verbreitert sich nach unten. Jedoch fanden die Archäologen weder Getreidekörner noch Spuren eines Feuers, mit dem Vorratsgruben vor dem Befüllen oft steril gemacht wurden. Sie gehen deshalb davon aus, dass es sich um eine eigens angelegte Struktur handelt.
In der Grube fanden sie drei weibliche Skelette. Eine der Frauen, sie war über 50 Jahre alt, war in zentraler Position auf ihrer linken Körperseite platziert, mit einem Keramikgefäss nahe bei ihrem Kopf. Auf sie gehen die Archäologen kaum ein. Denn da waren die beiden anderen, jüngeren Frauen. Sie lagen unter der überhängenden Grubenwand.
Die eine, genannt Frau 2, lag auf dem Rücken, die Beine angewinkelt. Auf ihrem Schädel befand sich das Fragment eines Mahlsteines. Frau 3 lag mit dem Hals auf dem Brustkorb von Frau 2. Auch die Knie dieser Frau sind angewinkelt, doch sie war auf dem Bauch platziert, mit zwei Fragmenten von Mahlsteinen auf dem Rücken.
Die Archäologen rekonstruierten rechnerisch die ursprüngliche Höhe der durch die Verwesung eingefallenen Knochengerüste. Demnach war ursprünglich zwischen der überhängenden Grubenwand und dem Brustkorb von Frau 3 fast kein Platz. Die Mahlsteine wurden also gewaltsam hineingezwängt. Falls die Frauen zu diesem Zeitpunkt wie von den Studienautoren angenommen noch lebten, konnten sie kaum atmen. Frau 2 starb demnach wahrscheinlich einen sogenannten lagebedingten Erstickungstod.
Die Position von Frau 3 hingegen, auf dem Bauch liegend, die Knie mehr als 90 Grad gebeugt, interpretieren die Ausgräber als Hinweis, dass diese Frau einen Strick um den Hals hatte, mit dem auch die Füsse zusammengebunden waren, und sich so selbst strangulierte. Die italienische Mafia nennt diese Art des Foltermords «incaprettamento».
Waren die Frauen in Saint-Paul-Trois-Châteaux Menschenopfer?
Die Autoren sprechen statt von Folterqualen lieber von einem «rituellen Mord», vulgo: Menschenopfer. Unter einem Menschenopfer versteht man die religiös motivierte, ritualisierte Tötung von Menschen.
Solche Menschenopfer waren laut der Studie nicht nur in Mittel- und Südamerika verbreitet, sondern auch in Europa. Die Archäologen haben Grabungsberichte nach weiteren europäischen Beispielen durchforstet, in denen die Position von Toten ein «incaprettamento» nahelegt. Zwanzig Fälle haben sie aus einem Zeitraum von etwa 2000 Jahren, beginnend um 5400 v. Chr., gefunden, und vermutlich gebe es noch mehr, schreiben sie.
Andrea Zeeb-Lanz arbeitet bei der Landesarchäologie Speyer, sie ist Spezialistin für ungewöhnliche Tote aus dem Neolithikum. Mehr als fünfzehn Jahre lang hat sie im rheinland-pfälzischen Herxheim eine Anlage mit den Resten von etwa 600 Individuen ausgegraben, denen offenbar das Fleisch von den Knochen geschnitten wurde und die sie für rituell getötet hält.
«Die Autoren führen sehr gute Argumente an, dass es sich bei den beiden Frauen in Saint-Paul-Trois-Châteaux tatsächlich um Menschenopfer handelt», erklärt sie per E-Mail. Dafür sprächen die auf den Opfern liegenden Steine und die unnatürlich angezogenen Beine von Frau 2 – und die Anwesenheit der älteren Frau in der Mitte der Grube, die deutlich kein Menschenopfer darstelle. Zeeb-Lanz versteht Frau 2 und Frau 3 als «Begleiterinnen» dieser Toten.
Auch die Ausrichtung der Anlage nach den Sonnenwenden findet sie auf Grundlage der dokumentierten Gräben überzeugend; weniger klar sei, ob es das von den Studienautoren rekonstruierte Gebäude wirklich gegeben habe.
Aber nicht alle sind so überzeugt. Sandra Pichler, Archäoanthropologin von der Universität Basel, hat sich viel mit den Spuren von Gewalt im Neolithikum beschäftigt. Sie schreibt auf Anfrage, ein Menschenopfer sei «eine mögliche Interpretation, und die Argumente im Text stützen diese».
Allerdings böten die Studienautoren keine alternativen Erklärungen an, wie zum Beispiel «eine rituelle Deponierung der bereits toten Frauen mit bedeutungsvollen Beigaben» – Mahlsteine würden oft in einen Zusammenhang mit Fruchtbarkeit im Sinne von landwirtschaftlichem Ertrag gestellt. «Auch eine Bestrafung, also Exekution, wäre vorstellbar, das wäre dann keine Opferung.»
Menschenopfer sind in der Archäologie sehr umstritten
Das Thema Menschenopfer nämlich war in der Archäologie schon immer umstritten. Was Archäologen im Boden finden, ist ja immer nur die letzte Stufe eines Rituals. Daraus einen Ablauf und womöglich das zugrunde liegende Glaubenssystem abzuleiten, ist schwierig.
Auch Zeeb-Lanz ist natürlich bewusst: «Man kann nicht mit zweifelsfreier Sicherheit Menschenopfer bestimmen, da es auch andere Gründe für die Art der jeweiligen Bestattung geben kann.» Auch nach einem natürlichen Tod wurden Personen mitunter gefesselt oder mit Steinen beschwert – aus Angst davor, dass sie untot zurückkommen könnten.
Es gibt aber Kriterien, die Archäologen heranziehen: von der Norm abweichende Grabanlagen, eine für diese Zeit und Region ungewöhnliche Lage oder Haltung des Skeletts, das Fehlen von Beigaben, wie sie den Toten normalerweise mitgegeben wurden.
Pichler ist trotzdem skeptisch: «Ein eindeutiger Nachweis ist nur möglich, wenn die beobachteten Verletzungen keine andere Erklärung zulassen, wie zum Beispiel bei den Inka-Mumien aus Südamerika, die lebend der Kälte ausgesetzt wurden.» In anderen Fällen, zu denen auch einige der von den Autoren angeführten Beispiele gehörten, sei es «eine mögliche oder wahrscheinliche Erklärung», für die Mehrheit hingegen eher «eine unbewiesene Vermutung, das heisst gleich wahrscheinlich wie alternative Erklärungen».
Martin Smith, der sich als Anthropologe an der Universität Bournemouth unter anderem mit Konflikten und Gewalt unter den frühen Bauern in Europa beschäftigt, hält in einer E-Mail die Argumentation im Fall von Saint-Paul-Trois-Châteaux jedoch für schlüssig: «Sonst müssten wir davon ausgehen, dass drei Erwachsene, alle weiblich, alle zur gleichen Zeit gestorben sind und in einem ungewöhnlichen Kontext und in seltsamer Position bestattet wurden – das würde noch mehr Fragen aufwerfen» als die Interpretation als Menschenopfer.
Auch Mitglieder der eigenen Gruppe können zu Menschenopfern werden
Oft, erklärt er, gehe man davon aus, dass die geopferten Individuen Gefangene, Sklaven oder sonstige Aussenseiter gewesen seien; in manchen Fällen lässt sich das auch durch Analysen der DNA oder bestimmter Spurenelemente in den Knochen nachweisen, so bei der von Zeeb-Lanz ausgegrabenen Anlage in Herxheim.
Aber, sagt die Speyerer Archäologin, die Getöteten könnten durchaus auch aus der eigenen Gruppe stammen: «Das Opfer hat einen grösseren Wert, weil der Verlust für die Gemeinschaft sehr viel höher ist als bei der Opferung von ‹Fremden› im weitesten Sinne.»
Bleibt die Frage, wer eigentlich mit diesem Opfer beeinflusst werden sollte. Über die religiösen Vorstellungen im Neolithikum wissen wir so gut wie nichts. Aber möglicherweise, das belegen auch ethnologische Beispiele, war etwas anderes noch wichtiger: «Die Opferung von Menschen kann den Gruppenzusammenhalt stärken. Damit lassen sich etwa in Zeiten von sozialen oder ideellen Unsicherheiten in der Gemeinschaft gemeinsame Werte und Strukturen wieder ins Gleichgewicht bringen», erklärt Zeeb-Lanz. Und sie kann den Machtanspruch der herrschenden Klasse festigen.
Das bestätigt auch eine Studie zu Menschenopfern im ostpazifischen Raum: Demnach dienten in Gesellschaften mit sich gerade bildenden Hierarchien Menschenopfer dazu, soziale Kontrolle zu gewinnen und auszubauen. Sobald diese sozialen Systeme etabliert waren, traten formelle Kontrollmethoden an die Stelle der Menschenopfer.
Übrigens: Die Mafia hat ihre Opfer manchmal auf andere Weise umgebracht und erst nachträglich in die «incaprettamento»-Position gebracht.