Im Handelsstreit mit den USA rät Wolfgang Reitzle, einer der erfahrensten deutschen Manager, zur Gelassenheit. Die Pläne der künftigen Regierung zur Schulden- und Klimapolitik kritisiert er scharf – aber den designierten Kanzler schätzt er.
Herr Reitzle, Sie kennen die USA gut. Wie schätzen Sie den von Präsident Donald Trump angezettelten Handelskonflikt ein?
Zum einen setzt er um, was er im Wahlkampf angekündigt hat. Zum andern sind die Zölle und ihre sonderbare Berechnung ein Angriff auf den Freihandel, der nicht zuletzt auch Amerika wohlhabend gemacht hat. Diese Zölle kennen nur Verlierer.
Trump will Wertschöpfung zurück in die USA holen. Verlagern Unternehmen nun Produktion nach Amerika?
Die meisten Konzerne, aber auch kleinere Unternehmen, haben immer schon ihre Wertschöpfung möglichst dorthin verlagert, wo ihre Märkte sind. Im Sinne einer «natürlichen Absicherung». Damit werden Zölle irrelevant, und Wechselkursbewegungen haben keinen Einfluss auf die Marge. Aber oft kann man nicht für jede Komponente eine kritische Masse in jedem Land darstellen. Die leeren Fabriken in Detroit sind zudem nicht durch hohe Zölle anderer Länder entstanden, sondern weil andere Nationen zum Beispiel wettbewerbsfähigere Autos gebaut haben.
Wie sollten Deutschland und die EU auf die US-Zölle reagieren?
Erst mal gelassen. Wir können kurzfristig sowieso nichts ändern. Ich halte die Politik der EU in diesem Fall für richtig. Man soll die eigenen Instrumente auf den Tisch legen, aber sie zunächst nicht einsetzen, sondern konstruktiv das Gespräch suchen. Im Übrigen war der Vorschlag einer «Null-Zoll-Politik» clever. Die Ablehnung durch Trump lässt erkennen, dass es ihm bei der Zollpolitik nicht in erster Linie um freien und fairen Handel geht, sondern um zusätzliche Einnahmen für den Staat.
Manche wollen die US-Tech-Konzerne ins Visier nehmen.
Auch das geht in die richtige Richtung. Man muss ja sehen: Die USA haben ein riesiges Handelsbilanzdefizit bei Waren, aber einen grossen Überschuss im Dienstleistungshandel. Autos, Motorräder oder Whisky zu besteuern, ist wirtschaftlich irrelevant. Aber bei Dienstleistungen sind die USA verwundbar. Damit hat die EU einen Trumpf in der Hand, den sie, falls tatsächlich nötig, mit einer gewissen Vorwarnzeit ausspielen sollte. So könnte die US-Regierung noch einlenken.
Was haben die USA zu verlieren?
Die Bedeutung des Dollars als Leitwährung. Wenn Amerika die Finanzmärkte so verunsichert, dass diese den Dollar nicht mehr als sicheren Hafen sehen, wäre das eine fundamentale Schwächung Amerikas. Die USA könnten ihre hohe Verschuldung nie mit so niedrigen Zinsen finanzieren, wenn der Dollar nicht die Leitwährung wäre.
Was bedeutet der Handelsstreit für Continental? Sie haben 50 Standorte in den USA, 20 in Mexiko und drei in Kanada.
Continental produziert grundsätzlich so weit wie möglich vor Ort. Ganz im Sinne der «natürlichen Absicherung». Und auch im Sinne der Trump-Politik. Trotzdem gibt es natürlich Exporte in die USA. Das meiste davon aus der Automotive-Sparte, zum Beispiel Fahrerinformationssysteme, Sensoren, Steuergeräte oder elektronische Module, aber es betrifft auch die Reifen-Sparte. Deshalb sind wir US-Zöllen auf Importe ausgesetzt, aber nicht stärker als andere. Ich bin zudem der Auffassung, dass Trump dieses System nicht durchhalten kann und wird.
Die deutsche Autobranche war schon vor dem Ausbruch des Handelskonflikts in einer Krise. Viele wollten die Abhängigkeit von China durch den Ausbau des US-Geschäfts reduzieren. Ist diese Ausfahrt jetzt versperrt?
Dazu müssen wir nicht nur über die Autoindustrie diskutieren. Das Exportmodell Deutschlands bestand generell darin, hochwertige Produkte für die Weltmärkte zu produzieren und riesige Exportüberschüsse zu erzielen, vorwiegend in den klassischen drei Sektoren Automobil, Maschinenbau und Chemie.
Warum funktioniert das nicht mehr?
Erstens steht das billige Erdgas aus Russland als Basis für dieses Geschäftsmodell nicht mehr zur Verfügung. Zweitens haben wir durch eine fragwürdige Klima- und Energiepolitik unseren Strom zum teuersten der Welt gemacht. Drittens hat China schon lange vor Trumps Zöllen versteckte und direkte Massnahmen ergriffen, um seinen Markt zu schützen und zugleich den Export von Autos, Maschinen und Chemieprodukten zu steigern.
Wie sollte die deutsche Wirtschaft mit China umgehen?
Auch gegenüber China ist die richtige Strategie «local for local», also der Aufbau von möglichst viel Wertschöpfung in China, aber vor allem auch in anderen asiatischen Märkten. Es könnte sein, dass die USA in einem Konflikt mit China uns vor die Wahl stellen würden, entweder nicht mehr nach China zu liefern oder den Zugang zum amerikanischen Markt zu verlieren. Deutschland muss diversifizieren, weil die Abhängigkeit von China und den USA zu gross geworden ist. Zugleich sind das nun einmal die grössten Märkte der Welt.
Zurück zu den deutschen Autoherstellern und ihren Zulieferern: Sie haben auf externe Faktoren verwiesen. Hat die Branche keine Fehler gemacht?
Im Rückblick muss man sagen, dass die deutschen Autohersteller früher in die E-Mobilität hätten einsteigen sollen. Wer in einem Bereich führend ist, tut sich aber immer schwer mit der Aufgabe seiner Stärken. Viel wichtiger wäre für mich indessen das Thema Fahrerassistenzsysteme gewesen, also die frühzeitige Entwicklung von Systemen für das zunächst teilautonome Fahren. Damit hätte sich die deutsche Autoindustrie aus einer 150-jährigen Tradition gelöst. Anstelle des klassischen Autos hätte sie begonnen, Computer auf vier Rädern zu bauen. Und sich damit einen globalen Marktvorteil gesichert. Andererseits sagt sich derlei leicht, ist aber schwierig umzusetzen: Die Autoindustrie war und ist ja seit Jahren ebenso wie andere Branchen von steigenden Kosten und sinkender Produktivität am Standort Deutschland betroffen.
Warum sinkt die Produktivität?
Neben anderen Faktoren wie der Einstellung zur Arbeit möchte ich hier die Währung nennen. Wenn Schweizer Unternehmer über den starken Franken klagen, sage ich immer: Wohlstand kann man nur mit einer starken Währung schaffen. Sie zwingt zu permanenten Produktivitätsverbesserungen. Das war mit der D-Mark für die Deutschen genauso. Die Abschwächung des Euro war dann für die deutsche Exportindustrie ein anstrengungsloser Booster. Heute hat Deutschland mit einem Durchschnitt von 1350 Stunden die geringste Jahresarbeitszeit der Welt und 20 Krankheitstage pro Jahr. Wir müssen wieder fleissiger werden.
Sollte die EU die europäischen Hersteller unterstützen, indem sie die Flottengrenzwerte und das Verbrennerverbot ab 2035 kassiert?
Brüssel hat bewusst Flottengrenzwerte erlassen, die mit dem Verbrennungsmotor nicht mehr zu erreichen sind. Das war falsch. Grenzwerte sollten anspruchsvoll, aber erfüllbar sein. Die Elektromobilität wird sich in Metropolregionen und bestimmten weit entwickelten Ländern durchsetzen. Weltweit wird der Verbrennungsmotor jedoch noch viele Jahrzehnte unersetzbar bleiben, denken Sie an Afrika, Südamerika und Teile Asiens. Und das Verbrennerverbot war ein unverständlicher Eingriff in die Marktwirtschaft und die Technologieoffenheit. Es sollte dringend revidiert werden.
Conti hat sich ab etwa Ende des vergangenen Jahrhunderts von einem Reifenhersteller zu einem der grössten integrierten Systemzulieferer der Autobranche entwickelt. Jetzt läuft die Rückabwicklung, und bald wird Conti wieder eine reine Reifenfirma sein. Warum?
Die Zeit der Konglomerate ist vorbei. Nicht die Grossen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen überholen die Langsamen. In der aktuellen Situation brauchen Unternehmen Fokus, um schneller und flexibler agieren zu können. Fokussierte Unternehmen werden daher auch am Kapitalmarkt höher bewertet. Nikolai Setzer hat als Continental-CEO mit seinem Team in den vergangenen Jahren aus vielen kleinen Einheiten drei starke Unternehmen geschaffen, die jetzt reif für die Verselbständigung sind. Es gibt ausserhalb der Verwaltung keine geschäftsrelevanten Synergien zwischen den drei Bereichen Reifen, Automotive und ContiTech. Im Laufe des Jahres 2026 werden dann wohl alle Einheiten selbständig sein.
Sie sind seit 2009 Aufsichtsratschef. Haben Sie die Zerschlagung zu lange hinausgezögert?
Bis 2018 ist die weltweite Autoproduktion ständig gestiegen, dann kippte der Markt. Es kamen die Corona-Pandemie und die Chip-Krise. Letztere hat Continental sehr stark getroffen, weil das Unternehmen zu den weltgrössten Zulieferern für elektronische Komponenten zählt. Wir konnten selbst nicht ausreichend Chips besorgen, hatten aber die Lieferabrufe unserer Kunden, so weit es eben möglich war, zu erfüllen. Das hat uns sehr viel Energie und Geld gekostet. Unsere Antriebssparte Vitesco Technologies haben wir in einem nach wie vor herausfordernden Umfeld im Herbst 2021 an die Börse gebracht. Wir waren also schnell unterwegs. Dann haben wir damit begonnen, die Abspaltung von Automotive und ContiTech zu prüfen. Das benötigte Zeit, denn wir reden hier über ein Unternehmen mit rund 40 Milliarden Euro Umsatz und knapp 200 000 Mitarbeitern.
Deutschland bekommt eine neue Regierung, der Koalitionsvertrag ist schon da. Kann damit die Wirtschaftswende gelingen?
Ein Eckpunktepapier, das auf grosse Strukturreformen zielt, wäre besser gewesen als die 144 Seiten, die detaillierte Einzelziele beschreiben. Ein Grund dafür war, dass sich CDU/CSU durch das Bashing der Grünen und die Bekämpfung der FDP in eine schlechte Verhandlungsposition gebracht haben. Und die SPD hat diese Lage genutzt. Ich halte es zudem für falsch, im Verteidigungsbudget alles über 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts mit Schulden zu finanzieren. Besser wäre es gewesen, wenn man das erst jenseits einer Schwelle von 2 Prozent so machen würde. Mit der jetzigen Regelung hat sich die Koalition raffiniert Spielmasse in zweistelliger Milliardenhöhe geschaffen, die sie für alles Mögliche verwenden kann.
Auch das Sondervermögen für Infrastruktur und Klima war in der Höhe unnötig. Ein Land mit so hohen Steuereinnahmen sollte Investitionen in die Zukunft aus dem Haushalt finanzieren können. Zudem ist es sinnlos, bereits 2045, also fünf Jahre früher als die EU, klimaneutral sein zu wollen. Das wird uns teuer zu stehen kommen. Aber durch den Zertifikatehandel ist der Effekt aufs Klima null, denn andere in der EU werden das CO2 verbrauchen, das wir sparen.
Sie sehen die geplanten zusätzlichen Schulden skeptisch.
Deutschland war neben der Schweiz das einzige Land mit einer funktionierenden Schuldenbremse. Jetzt gibt es diese auf, zugleich wächst unser Bruttoinlandprodukt seit fünf Jahren nicht mehr. Das hat Rückwirkungen auf den Euro, weil Deutschland bisher den anderen Euro-Staaten seine Kreditwürdigkeit sozusagen leiht. Der Kapitalmarkt sieht die anderen Euro-Länder als durch Deutschland abgesichert. Doch behalten wir unser AAA-Rating, unsere hohe Kreditwürdigkeit, wenn wir weiter durchhängen? Sollte Deutschland irgendwann das AAA-Rating verlieren, wäre das aus meiner Sicht verheerend für das Euro-System.
Sie wohnen in Luzern. Was kann Deutschland von der Schweiz lernen und was die Schweiz von Deutschland?
Die Schweiz kann von Deutschland lernen, dass Energiepolitik nur auf Basis von Erneuerbaren und ohne Atomkraft nicht funktioniert. Sonst fällt mir nicht viel ein. Deutschland kann dagegen eine Menge von der Schweiz lernen. Ich denke an die perfekte Infrastruktur, bei der ständig eine präventive Instandhaltung betrieben wird. Ich denke an den ausgeglichenen Haushalt, und ich bin begeistert von der Dienstauffassung der Mitarbeiter in allen Ämtern, da diese sich als Dienstleister des Souveräns sehen, nämlich des Volkes. Ich könnte viele weitere Bereiche nennen, von der Digitalisierung bis zu den Schweizer Bundesbahnen.
Haben Sie Hoffnung, dass Deutschland wieder zu sich findet?
Bei uns sind über die Jahrzehnte einige Dinge aus der Spur gelaufen. Neulich habe ich in diesem Zusammenhang einmal von «Wohlstandsverwahrlosung» gelesen. Da ist was dran, auch wenn das sicher ein sehr pointierter Begriff ist. Friedrich Merz hat mit seiner Regierung jetzt eine echte Chance: Ich kenne ihn und weiss, dass er viel bewegen will. Er kann zur politischen Leitfigur in Europa werden.
Wolfgang Reitzle – Spezialist für komplexe Fusionen
ra. Der 76-Jährige ist einer der erfahrensten Manager im deutschsprachigen Raum. Reitzle studierte Maschinenbau sowie Arbeits- und Wirtschaftswissenschaften in München und fing nach seiner Promotion bei BMW an, wo er es bis in den Vorstand schaffte. Danach wechselte der «Car Guy» für drei Jahre zu Ford mit Verantwortung für die Premiummarken Jaguar, Land-Rover, Lincoln, Aston Martin und Volvo. 2002 ging Reitzle zum Industriegase-Hersteller Linde. Dort war er von 2003 bis 2014 Vorstandsvorsitzender sowie von 2016 bis 2022 Aufsichtsratsvorsitzender. 2018 orchestrierte er die Fusion mit Praxair. Dabei halfen ihm Erfahrungen aus seiner Zeit als Verwaltungsratspräsident bei Holcim (2014–2016), denn die Firma verschmolz 2015 mit Lafarge. Seit 2009 ist Reitzle zudem Aufsichtsratschef von Continental. Sein Mandat läuft mit der Hauptversammlung 2026 aus, er tritt danach nicht mehr an.
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