Der italienische Regisseur hat mit seinem poetischen Realismus grossartige Werke geschaffen. In seiner Heimatstadt Ferrara wurde jüngst dem 2007 verstorbenen Filmer ein Museum gewidmet.
Es sind Bilder, die sich in unser Gedächtnis eingegraben haben: Eine junge Frau, gespielt von Monica Vitti, mit ihrem Kind an der Hand, irrt durch eine Industriezone am Meer. Die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Der Film heisst «Il deserto rosso» und ist knapp fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen eine Parabel, ein allegorisches Meisterwerk, wie wir es so nicht noch einmal gesehen haben. Was hinter den Bildern lauert, die manchmal wie Gemälde anmuten, zieht den Zuschauer in einen Strudel aus Abwesenheiten, Einsamkeit oder Gleichgültigkeit.
Es sind Bilder von der Unfähigkeit zur Veränderung, ein schleichendes, lähmendes Entsetzen. Immer wieder taucht die Signalfarbe Rot auf in den Rohrsystemen und Schloten einer Ölraffinerie, zuerst als Warnung, am Ende des Films gleichsam als Kapitulation vor einer feindlichen Zivilisation, die der Mensch selbst erschaffen hat. Sie macht sichtbar, was allgemeine und zyklische Krise einer technizistischen Moderne bedeuten kann.
Dabei war Michelangelo Antonioni keineswegs Marxist oder ein Linker. Er wuchs in einer grossbürgerlichen Familie auf, geboren 1912 in Ferrara in der Emilia-Romagna, einer Stadt, die im frühen Morgennebel geheimnisvoll wirkt mit ihren menschenleeren Plätzen, als hätte Giorgio de Chirico Pate gestanden. Wenn sich der Nebel auflöst, sind die Morgenstunden lichtdurchflutet.
Schmale Gassen führen aus der Innenstadt, alles wird kleiner, pittoresker und erinnert an Pferdewagen, an rollende Fässer und Krüge, gefüllt mit leichtem Wein. Die Stadt seiner Kindheit und Jugendjahre, die Landschaft am Fluss in der Poebene hat Antonioni in mehreren Filmen ins Bild gesetzt, zuletzt in einer Episode in «Jenseits der Wolken» (1995), die beinah wehmütig von einer gescheiterten Liebe erzählt. Es sollte sein letzter Film sein, ein leiser Abschied.
Postkarten für den Maestro
Man kann es ein spätes Glück nennen, dass die Stadt Ferrara ihrem bedeutenden Sohn ein Museum gewidmet hat, das den Namen Spazio Antonioni trägt und seit diesem Sommer den Besuchern offensteht. Zwanzig Gehminuten von der Kathedrale entfernt befindet sich auf zwei Ebenen eine Retrospektive des Schaffens von Antonioni: Fotos, Zeichnungen und Erinnerungsstücke aus dem Nachlass, Filmstills und Ausschnitte seiner Werke sind zu sehen, manches bisher für die Öffentlichkeit Unbekannte wie Postkarten von Scorsese und Umberto Eco.
Von den 1940er Jahren an folgt man noch einmal den Stationen des Künstlers. Begonnen hat Antonioni mit Dokumentarfilmen, die im Einzugsgebiet der Poebene den Alltag der Menschen porträtieren. Kargheit und Reduktion, am Stil des Neorealismus geschult, treffen hier auf den Versuch, die Geschichten der Menschen und ihrer Lebenswelten zu erzählen.
Antonioni gelang es, den sozialromantischen Neorealismus seiner Mitstreiter Fellini und De Sica alsbald abzustreifen, um eine eigene, genuine Filmsprache zu entwickeln. Diese war nicht nur für das italienische Kino ein innovativer schöpferischer Akt, der die vorherrschende Erzählweise zu überwinden versprach.
Spätestens mit «Il deserto rosso», doch schon in «L’Avventura» (1960) inszeniert Antonioni ein riskantes Spiel mit den Sehgewohnheiten und Erwartungen des Publikums. Der stringent erzählte Plot verschwindet zugunsten einer handlungsarmen Inszenierung, die auf Bilder und Einstellungen fokussiert und zu einer Verlangsamung gerinnt, bei der sich die Handlungsstränge teilweise auflösen und auf ein offenes Ende zusteuern.
Diese grossen Werke bis zu «Professione: Reporter» (1975) kann man als eine einzigartige Geschichte der Entfremdungen bezeichnen. Der Mensch wird sich selber fremd. Die Geschlechter üben eine sexuelle Anziehungskraft aus, eine Gewalt aus Selbstsucht und Manie, die nicht in glücklicher Liebe endet, sondern in einem kurzen Erschrecken, das sich in Überdruss und Indifferenz verwandelt.
Geschichten vom Verschwinden
Vor dem Museum, das einst als Galerie genutzt wurde und nun einige Jahre leer stand, auch in Folge der Pandemie, thronen eine Magnolie und ein Walnussbaum. Beide hoch aufschiessend, halten ihr schützendes Dach über die Köpfe der Vorübergehenden. Vielleicht ist die Blütezeit des Autorenkinos endgültig vorbei, könnte man in ihrem Schatten denken. Und dass jedes Kind Netflix kennt und Amazon Prime.
Das alte Kino an der Ecke ist verschwunden zugunsten eines Cinemax in einer Mall, wo die Blockbuster laufen und Menschen Popcorn futtern. Fast Food statt Nouvelle Cuisine, Hollywood statt Nouvelle Vague. In dem Filmessay «Room 666» von Wim Wenders (1982) vor laufender Kamera befragt, sagte Michelangelo Antonioni dem Kino eine ziemlich düstere Zukunft voraus. Und dennoch hegte er die Hoffnung auf neue technische Möglichkeiten.
Was aber gäbe es in den neuen Filmen noch zu erzählen? Michelangelo Antonioni hat fürs Erste das Verschwinden festgehalten. Wie in «Blow up» (1966): Präzision, Kälte und Abstossung prägen dieses epochale Werk in der Zeit des Swinging London. Ein Modefotograf entdeckt auf dem Film seiner Kamera die Szenen eines möglichen Mords, von dem der Zuschauer aber nicht wissen kann, ob er auch tatsächlich stattgefunden hat.
Die Suche nach der wie auch immer gearteten Wahrheit wird zur Obsession. Der Film verweigert die Auflösung eines visuell ausgelösten Verdachts, die Motive verlieren sich, doch das Verstörende bleibt. Nichts von dem wird aufgeklärt, was im Dunkel liegt, im Obskuren. Das Rätsel zu kennen, bedeutet mehr als die Lösung. Alles bleibt offen, uneindeutig und spekulativ oder wird später wie eine Tonspur gelöscht.
Dass Antonioni Erzählbände geschrieben und gemalt hat, ist womöglich nicht überall bekannt. Als sein Sprechzentrum so stark beschädigt war und er sprichwörtlich die Sprache verloren hatte, begann er, einzelne Filmszenen auf Papier zu zeichnen. Er konnte alles Notwendige visualisieren.
Dieser grosse schlanke Mann, elegant in seinem Äusseren, ein stilsicherer Wahlrömer, galt als hart und unerbittlich. Er hat keine Kompromisse gemacht, den Schauspielern und Mitarbeitern, so sagt man, hat er jedes Mitspracherecht entzogen.
Letzte Worte mit Tränen in den Augen
Ende der 1970er Jahre kehrte Antonioni aus dem Ausland zurück. Sein Studenten-Hippie-Film «Zabriskie Point» (1970) mit dem gigantischen, nicht enden wollenden Finale zur Musik von Pink Floyd zeigte deutlich, dass der Maestro kein Regisseur für die synthetische Traumfabrik Hollywood sein konnte. Die sterile Künstlichkeit des amerikanischen Kinos entsprach nicht der Verfremdungstechnik, wie sie das Theater Bertolt Brechts proklamiert hatte und bei Antonioni auf reges Interesse stiess. Antonioni war ein Poet, ein Bilder-Erschaffer. Mit der Unterhaltungsindustrie verstand er sich alles andere als gut.
Man muss sich Antonioni auf einer verwaisten Piazza im sizilianischen Barockstädtchen Noto vorstellen, wie er mit den Händen eine Geste macht. Was er zeigt, sind Bilder von Bildern: die Leere, das Negativ, das Fehlende. Die Leere als Geschichte; das Vergebliche, das bittersüss schmecken kann. Die Langeweile als auf die Zeit verteilter Schmerz.
Sieht man sich die «Rote Wüste» noch einmal an, begreift man, dass die Versuche, das Leben zu ändern, gescheitert sind. Die Sehnsucht nach dem anderen, dem Fremden, bleibt uneingelöst. Das Bild der Frau, die das Gesicht zwischen ihre Hände presst, spricht ohne Worte. Längst ist die rote Wüste eine Metapher geworden für unseren Planeten, der ausgebeutet, erschöpft, verheert und bereits an den Rändern verbrannt seinem Untergang zentimeterweise unaufhaltsam näher kommt.
Bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte zu einer Preisverleihung sehen wir Michelangelo Antonioni, von der Krankheit gezeichnet, Tränen in den Augen, neben seiner um vierzig Jahre jüngeren Frau stehend, die für ihn eine Dankesrede hält. Es gelingt ihm noch ein einzelnes Wort, kaum hörbar, zwischen den Lippen herauszupressen: «Grazie».
Michelangelo Antonioni wusste etwas sehr Genaues über das Unversöhnliche, jene unsentimentale Trauer, wie man sie unter schweren dunkelroten Tapeten hervorkratzt in einem Hotelzimmer in Prati, die Wände halb verspiegelt. Was uns fragend ansieht, glaubt man Antonioni, sind wir selbst.