Die bekannte Islamkritikerin findet, Deutschland habe seine Grundsätze verraten – und zahle nun einen hohen Preis dafür. Die Schweiz sieht sie trotz der hohen Einwanderung als Vorbild.
Ihre sanfte Stimme steht in Kontrast zu ihren messerscharfen Aussagen: Die Politologin Ayaan Hirsi Ali gehört zu den prominentesten Kritikerinnen des Islam und der europäischen Einwanderungspolitik. 1992 war sie vor der drohenden Zwangsheirat aus Somalia in die Niederlande geflohen, 2003 wurde sie ins niederländische Parlament gewählt. Ihr Kampf gegen den Islamismus entspringt ihrer eigenen Erfahrung: Ihr wurden im Namen der Religion die Genitalien verstümmelt, seit Jahren ist sie den Todesdrohungen von Islamisten ausgesetzt. 2006 zog sie in die USA, noch immer braucht sie Bodyguards, auch beim Besuch in der Schweiz ist stets einer in ihrer Nähe.
Frau Hirsi Ali, seit Jahren zeichnen Sie ein düsteres Bild Europas, das tatenlos zuschaut, wie es durch Zuwanderung und Islamisierung seine Identität, seine Werte verliert. Nun gewinnen überall migrationskritische Parteien. Stehen wir an einem Wendepunkt?
Ich zeichne kein düsteres Bild, sondern übe konstruktive Kritik. Als Frau, die vor dem Islam nach Europa geflüchtet ist, bin ich sensibilisiert für Probleme, die jahrelang kaum jemand auszusprechen wagte. Die Wahlresultate in diversen Ländern zeigen, dass nun immer mehr Menschen die negativen Auswirkungen der grenzenlosen Migration erkennen. Das Problem ist, dass trotzdem kaum etwas passiert. Die europäische Politik hat zunehmend ein Problem mit der Legitimität, die Schweiz ist die löbliche Ausnahme.
Was meinen Sie mit der Legitimität?
Nehmen wir das Beispiel Deutschland. Die Wahlen haben eine deutliche Mitte-rechts-Mehrheit ergeben. Die AfD wird aber ausgeschlossen, deshalb bekommt das Land wieder eine Mitte-links-Regierung. In den Niederlanden ist eben die Regierung gestürzt. Der Grund war auch hier: Die Partei von Geert Wilders hat die Wahlen 2023 gewonnen, trotzdem erhielt er keinen klaren Regierungsauftrag. Wenn etwas schlecht lief, wurde es ihm angelastet, die positiven Entwicklungen wurden alle den Koalitionspartnern zugesprochen. Auch dieser Regierung fehlte letztlich die Legitimität. Dieses Problem haben wir in vielen Ländern Europas: Die Menschen bekommen nicht das, was sie gewählt haben. In den USA ist das anders: Dort hat das Volk Trump gewählt und dann auch Trump erhalten.
Sie haben Trump in der Vergangenheit sehr gelobt.
Meine Botschaft lautet vor allem: Man muss Wahlen und Abstimmungen respektieren. Ich bin seit 2013 amerikanische Staatsbürgerin. Wir haben Trump gewählt, also müssen wir mit den Konsequenzen leben. Die Schweiz ist für mich ein grosses Vorbild: Durch die direkte Demokratie ist die Legitimität der Regierung stets gegeben; das Land hält an seinen Traditionen fest, an seiner Unabhängigkeit, an seiner Kultur, an seinem Fundament. Andere Länder wie Schweden, das Vereinigte Königreich oder Deutschland haben das aufgegeben – und bezahlen einen sehr hohen Preis dafür.
Sie idealisieren die Schweiz. Über 30 Prozent der Bewohner sind nicht im Land geboren. Ein europäischer Spitzenwert. Auch wir haben unsere Probleme, zum Beispiel an Schulen, in denen die Mehrheit der Kinder zu Hause kein Deutsch spricht.
Natürlich ist wohl nicht alles perfekt. Aber ich denke, die Schweiz macht es besser als die meisten europäischen Länder. Mein Rat an die Schweiz lautet: Nehmt bitte nicht mehr Leute auf, als ihr aufnehmen könnt, haltet an euren Eigenarten und an eurer Unabhängigkeit fest! Ihr dürft nicht vergessen, woher euer Wohlstand kommt: von der harten Arbeit eurer Vorfahren, von eurer christlich geprägten Kultur. Wer vergisst, woher er kommt, verliert den moralischen Kompass.
Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir in der Schweiz das Glück, dass die Mehrzahl der Migranten aus europäischen Ländern stammt, uns kulturell also ähnlich ist.
Das ist kein Glück, das hat die Schweiz bewusst so gewählt. Wer bei der Einwanderung von Glück oder Pech redet, tut so, als handle es sich um eine Naturgewalt, der man ausgeliefert sei. Das ist falsch. Einwanderung ist das Resultat von Politik, das ist sehr wichtig.
Als Sie vor zwanzig oder dreissig Jahren den Islam heftig kritisierten, war dies noch ein Skandal. Heute ist es akzeptierter, die problematischen Aspekte dieser Religion zu benennen.
Europa hat mittlerweile genug eigene Erfahrung gemacht, man kann die Probleme nicht mehr verdrängen oder leugnen. Ich war 2009 in der Schweiz, als über ein Verbot von Minaretten abgestimmt wurde. Die Menschen entschieden selbst, was sie tolerieren wollen und was nicht. Das fand ich grossartig. Eine solche Diskussion hätte ich mir auch in anderen Ländern gewünscht. Durch die EU, die immer mehr Entscheidungen in Brüssel zentralisiert, wird die Möglichkeit der Mitbestimmung immer kleiner. Das ist fatal, gerade auch bei Fragen der Migration. Denn mittlerweile ist den meisten Leuten klar: Der Islam, oder besser gesagt der Islamismus, ist mit der Demokratie und der europäischen Lebensweise nicht vereinbar.
Sie unterscheiden zwischen Islam und Islamismus? In der Vergangenheit wurde Ihnen oft vorgeworfen, dies nicht oder zu wenig zu tun.
Wenn jemand beten will, fasten oder eine religiöse Hochzeit feiern, so ist das natürlich kein Problem. Es sollen sich auch alle so kleiden, wie sie wollen. Die entscheidenden Fragen sind andere: Steht die Scharia über dem Gesetz? Wollen die Muslime anderen ihre Regeln aufzwingen? Soll eine Gesellschaft aus Rücksicht gewisse Traditionen und Gewohnheiten aufgeben? Jedes Land sollte für sich entscheiden können, wie es mit diesen Fragen umgeht. Ich plädiere für einen restriktiven Umgang.
Was spricht dagegen, an Schulen Gebetsräume für Muslime einzurichten, wie das mancherorts schon gemacht wird? Oder Minarette zu erlauben?
Wir sehen bereits vielerorts in Europa, was passiert, wenn man keine Grenzen setzt. Dabei könnte man einfach sagen: Wenn ihr der Scharia folgen möchtet, so ist das in Ordnung, einfach nicht bei uns. Wer hier leben will, ist willkommen, muss aber das Menu essen, das angeboten wird.
Sie werfen dem Westen vor, schwach zu sein, nicht genügend seine eigenen Werte zu verteidigen. Wo orten Sie die Ursachen für diese Schwäche?
Bei dem, was «weisse Schuld» genannt wird. Den Menschen mit weisser Hautfarbe, vor allem den heterosexuellen Männern, wird gesagt, sie seien privilegiert, sie hätten die ganze Macht, sämtliche Strukturen seien auf sie ausgerichtet. Und alle anderen seien ihre Opfer. Aus irgendeinem Grund hat sich der weisse Mann auf diese Erzählung eingelassen. Nun wollen alle Opfer des weissen Mannes sein, denn der Opferstatus hilft, Forderungen durchzusetzen. Eine Forderung einer anerkannten Opfergruppe abzulehnen, ist sehr schwierig.
Sie mit Ihrer Flüchtlingsgeschichte könnten in der Opfer-Pyramide ganz oben stehen.
Ich sah mich nie als Opfer. Ich kam 1992 in die Niederlande und war sehr dankbar, dass man mich aufgenommen hat, mir Essen gegeben hat und ich Sprachkurse besuchen konnte. Sobald ich in der Lage war, auf eigenen Füssen zu stehen, tat ich es. Schon im Asylbewerberheim habe ich freiwillig gearbeitet, ohne Bezahlung. Sobald ich konnte, arbeitete ich als Putzfrau. 1994, also zwei Jahre nach meiner Ankunft, bezog ich keinerlei Sozialleistungen mehr und verdiente so viel, dass ich Steuern bezahlen musste. Genau so soll es sein. Ich bin der Niederlande noch heute unendlich dankbar für alles. Auch wenn ich nicht mehr da lebe: Ich liebe die Niederlande von ganzem Herzen! Umso mehr schmerzt es mich, wie sich das wunderbare Land durch die Migration zum Negativen verändert hat.
Sie sind eine Kritikerin des Sozialsystems.
Ich finde es falsch, dass jemand hierherkommen und zehn oder zwanzig Jahre lang Sozialleistungen beziehen kann, seine Kinder und Kindeskinder es ihm dann gleichtun. Das ist nicht gerecht für jene, die arbeiten und Steuern bezahlen, es ist aber auch nicht gut für die Empfänger, die träge werden und sich unnütz fühlen. Ein Sozialsystem sollte dafür da sein, um Menschen in Schwierigkeiten zu helfen, möglichst schnell wieder auf eigenen Beinen zu stehen, und nicht als Dauerlösung.
Wie rasch Sie sich integriert haben, ist phantastisch: Sie lernten sofort die Sprache, zehn Jahre nach Ihrer Ankunft wurden Sie bereits ins nationale Parlament gewählt. Nicht alle sind so talentiert.
Danke, aber ich finde meine Geschichte nicht so aussergewöhnlich. Viele Migranten sind leistungsbereit. Die europäischen Länder sollten auswählen können, wen sie aufnehmen und wen nicht. Bisher konnte einfach jeder kommen. Das ist verheerend. Man gibt den Flüchtlingen ohne eine Gegenleistung eine Unterkunft, gesundheitliche Versorgung, Bildung. Alles kostenlos. Und man sagt ihnen nicht, woher das Geld dafür kommt. Damit schaffen wir nur Verlierer: bei den Einheimischen wie bei den Migranten.
An Ihrem Referat am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik in Luzern haben Sie dazu aufgerufen: «Schützt eure Grenzen!» Mit dem strengen Regime, das Sie fordern, wären Sie wohl nie aufgenommen worden.
Vielleicht schon. Ich plädiere für ein System, bei dem der Wille zur Integration strikt kontrolliert wird. Alle sechs Monate soll der Fortschritt überprüft werden. Wer bereit ist, die Sprache zu lernen, zu arbeiten und damit einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, darf bleiben. Wer diese Bereitschaft nicht zeigt, muss wieder gehen. Ich denke, das wäre ein ehrliches und faires Angebot. Stattdessen nimmt man einfach alle auf, die sich Flüchtling nennen, weil man findet, das seien arme Leute, die tun uns leid.
Mitleid ist ein falsches Motiv?
Es ist ein schreckliches Motiv! Damit versetzt man die Menschen in die Opferrolle. So entsteht auch die Anspruchshaltung: Warum fährt er ein teures Auto und ich nicht? Warum hat er eine schöne Wohnung? Linke Politiker versprechen dann, Abhilfe zu schaffen, und spielen sich als Retter auf, indem sie grosszügig Geld verteilen. So entsteht eine sehr ungute Dynamik.
Haben Sie eigentlich noch Kontakt zu Verwandten oder Freunden in Somalia?
Nein, keinen.
Seit dreissig Jahren keinen Kontakt? Weshalb?
Weil sie mich umbringen wollen.
Auch Ihre Verwandten?
Sie wollen mich töten, weil ich keine Muslimin mehr bin. Das haben Sie mir vor der Flucht deutlich zu verstehen gegeben. Das ist die traurige Realität. Seit dreissig Jahren versuche ich den Menschen hier zu erklären, wie die Welt aussieht, aus der ich komme. Sehr oft wurde mir unterstellt, dass ich übertreibe. Nun sagt das kaum mehr jemand. Denn diese Welt ist mittlerweile auch in Birmingham, in Paris, in Stockholm angekommen. Jeder, der die Augen öffnet, sieht es. Es gab eine Zeit, da haben mich unzählige europäische Staats- und Regierungschefs eingeladen, damit ich ihnen von meinen Erfahrungen erzähle. Sie hörten mir zwar zu, aber sie setzten danach nichts um.
Das muss frustrierend sein.
Es ist, wie wenn man zu Kindern spricht. Ich habe jetzt auch Kinder. Man sagt ihnen, sie sollen etwas nicht tun, dann tun sie es trotzdem. Und man denkt dann: Vielleicht ist das gut so, sie müssen die Erfahrung selber machen, um zu lernen. Europa macht nun diese Erfahrung.
Seit zwanzig Jahren können Sie nur noch mit Bodyguards auf die Strasse, Sie werden nach wie vor von Islamisten mit dem Tod bedroht. Denken Sie manchmal, es wäre besser gewesen, zu schweigen?
Während einiger Jahre habe ich mir tatsächlich gewünscht, ich hätte nichts gesagt. Doch solche Gedanken sind sinnlos, man kann es ja nicht rückgängig machen. Ich muss mit der Bedrohung leben, das ist meine Realität. Aber die gleiche Realität gilt in kleinerem Ausmass für alle Europäer. Wir können die fehlgeleitete Migrationspolitik nicht ungeschehen machen. Dennoch sollte man nicht aufgeben.
Als Mutter ist die Situation wohl noch belastender als zuvor.
Man muss das Leben so nehmen, wie es ist. Das habe ich von meiner Grossmutter gelernt, die als Nomadin in der Wüste lebte, ohne Strom, ohne fliessendes Wasser. Sie war den Naturkräften ausgeliefert, dem Sturm und den Überflutungen, der Hitze und der Dürre. Sie hat alles klaglos hingenommen. Meine Realität ist viel luxuriöser als jene meiner Grossmutter. Eigentlich sorge ich mich mehr um anderes.
Um was?
Überall erleben wir Angriffe auf Juden, zuletzt in Boulder, Colorado, und in Washington. Die jüdischen Gemeinden in den USA und auch in Europa sind in höchster Sorge. Das ist eine sehr reale und schwerwiegende Sache. Im Juni beginnt an der Ostküste die Hurrikan-Saison, Familien könnten wieder ihr Zuhause verlieren. Andere fürchten sich vor einer Ausweitung des russischen Angriffskriegs. Dagegen sind meine persönlichen Sorgen klein. Die Menschen haben seit je Kinder, man kann sie auch unter schwierigen Bedingungen grossziehen. Ich weiss nicht, ob die Frage, wie man seine Kinder grosszieht, eine Luxusfrage ist. Für mich, die ich aus Somalia komme, ist sie das auf jeden Fall.
Glauben Sie, dass Sie in ferner Zukunft wieder einmal nach Somalia reisen können?
Ich bin ja mit einem Schotten verheiratet (dem Historiker Niall Ferguson, Anm. d. Red.). Er sagt, dass Schottland früher wie Afghanistan gewesen sei. Also vor einigen hundert Jahren. Vielleicht wird Somalia ja irgendwann wie Schottland. Dann kann ich wieder hingehen.