Für Neumieter war es in Argentinien lange kaum möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Nach einer Deregulierung des Mietgesetzes boomt der Markt plötzlich. Entscheidend für die Menschen ist nun, ob künftig auch wieder mehr gebaut wird.
Für viele Menschen in Buenos Aires ist es ein ungewohnter Anblick geworden: An vielen Häusern und Wohnungen in der argentinischen Hauptstadt hängen seit einigen Monaten wieder Schilder mit der Aufschrift «Alquila» oder «Vende». Jahrelang waren sie verschwunden: Es gab kaum Eigentümer, die ihre Immobilien zur Miete oder zum Kauf anboten.
Das hat sich in den vergangenen Monaten geändert: Die Zahl der zur Vermietung angebotenen Immobilien hat sich in diesem Jahr fast verdoppelt, so eine statistische Erhebung des Verbandes der Immobilienwirtschaft (CI). Nach Angaben der Notarkammer ist die Zahl der Grundbucheintragungen auf den höchsten Stand seit sechs Jahren gestiegen.
Drei Gründe gibt es für den Boom bei Mietwohnungen
Für den plötzlichen Boom auf dem Markt für Wohnungen und Häuser gibt es drei Gründe. Sie alle hängen mit Entscheidungen des liberalen Präsidenten Javier Milei zusammen, der seit knapp zehn Monaten im Amt ist: So hat der Präsident das Mietrecht vereinfacht und dereguliert und unter anderem die Mietpreisbremse abgeschafft. Zudem vergeben die Banken seit April wieder Hypothekenkredite. Und die Regierung hat eine Amnestie für Schwarzgeld erlassen. Wer sein nicht deklariertes und damit unversteuertes Geld bis Ende Oktober offiziell auf ein Konto einzahlt, muss keine Strafe zahlen – wenn damit unter anderem eine Immobilie gekauft wird.
So hat der Präsident noch vor Ende des vergangenen Jahres in einem grossen Gesetzespaket auch das Mietgesetz von 2020 abgeschafft. Mit diesem hatte die linke Vorgängerregierung versucht, inmitten der Corona-Pandemie ärmeren Menschen bezahlbaren Wohnraum zu sichern. Das Gesetz machte Kündigungen schwierig. Mietverträge mussten eine Mindestlaufzeit von drei Jahren haben. Der Mietpreis durfte nur in Pesos vereinbart und nur alle zwölf Monate an die laufende Inflation angepasst werden.
Bei der seit 2019 steigenden Inflation von jüngst fast 300 Prozent im Jahr, war das für die Vermieter nach wenigen Monaten ein Verlustgeschäft. Sie liessen die Wohnung lieber leer stehen oder vermieteten sie nur vorübergehend unter der Hand. Die Folge: Mitte 2023 war ein Siebtel aller Wohnungen in Buenos Aires unbewohnt. Nach Angaben des Forschungszentrums für wirtschaftliche, soziale und städtische Entwicklung (Cedesu) standen 2022 in Buenos Aires rund 200 000 Wohnungen leer, fast 50 Prozent mehr als vier Jahre zuvor.
Wer einen Altvertrag hatte, profitierte von der Abwertung
Für Neumieter war es aufgrund des Mietgesetzes kaum möglich, eine bezahlbare Wohnung zu finden: Denn in Erwartung der inflationsbedingten Entwertung setzten die Vermieter die Anfangsmieten bei Vertragsbeginn so hoch an, dass sie für viele potenzielle Mieter unerschwinglich wurden. Wer hingegen einen Altvertrag hatte, profitierte von der Abwertung.
Mit dem neuen Mietgesetz können Verträge nun in Dollar oder Pesos abgeschlossen werden. Es gibt keine Mindestlaufzeiten, und die Anpassung an die Geldentwertung kann frei verhandelt werden. Zwar ist die Inflation seit Jahresbeginn rückläufig. Sie liegt aber immer noch bei über 200 Prozent in zwölf Monaten.
Mileis Abschaffung der Mietpreisbremse und anderer Regulierungen bestätige die ökonomische Theorie, beobachtet das nordamerikanische libertäre Wirtschaftsinstitut Cato: «Das Angebot an Mietwohnungen steigt, und die Mieten sind gesunken», sagt Ryan Bourne, Professor für öffentliches Verständnis von Wirtschaft bei Cato.
Dennoch ist der Anstieg der Mieten für viele Mieter dramatisch: In Buenos Aires zum Beispiel ist die Miete für eine Zweizimmerwohnung laut dem Immobilieninformationsdienst Reporte Inmobiliario um 184 Prozent gestiegen. In Provinzstädten stiegen die Mieten im Schnitt um 277 Prozent, haben sich also fast verdreifacht. Der Grund: «Im Landesinneren ist das Angebot an Mietwohnungen geringer», sagt Germán Gómez Picasso von Reporte Inmobiliario. «Dort wird seit Jahren weniger gebaut, und das Defizit an Mietwohnungen wird jedes Jahr grösser.»
Die Mieterhöhungen vertreiben Mieter aus ihren Wohnungen
Viele Mieter müssen aus ihren Wohnungen ausziehen und sich preiswertere Wohnungen suchen, weil sie sich ihre Wohnungen inmitten der Krise und der allgemein steigenden Preise für Dienstleistungen nicht mehr leisten können. Da die Regierung Milei Subventionen für öffentliche Dienstleistungen gestrichen hat, sind die Tarife für Transport, Strom, Gas und Wasser seit Amtsantritt der Regierung um 370 Prozent gestiegen. Die Armutsrate ist in einem Jahr um elf Prozentpunkte auf 53 Prozent der Bevölkerung gestiegen.
Der starke Anstieg der Mietpreise stellt jedoch auch eine Korrektur der Marktverzerrungen dar: Seit 2019 sind die Immobilienpreise laut dem Informationsdienst Radar Inmobiliario real (also nach Abzug der Inflation) um 45 Prozent gesunken. Mitte 2023 lagen sie real auf dem Niveau von 2004. Inzwischen sinken die Mieten aufgrund des gestiegenen Angebots wieder: Die Mietanpassungen liegen unter der monatlichen Inflationsrate.
Entscheidend für die weitere Normalisierung auf dem Wohnungsmarkt ist nun, ob die steigende Nachfrage nach Mietwohnungen auch zum Bau neuer Wohnungen führt. Aus dem Stadtbild von Buenos Aires sind die Baukräne verschwunden, die noch vor wenigen Jahren einige Stadtviertel dominierten.
In den Statistiken der Bauwirtschaft ist bisher nur eine schwache Erholung der Bautätigkeit zu erkennen: Es gibt so wenige Baufirmen wie zuletzt 2006. Die Zahl der Beschäftigten ist auf einem historischen Tiefstand. Allerdings ist der Zementabsatz nach Erhebungen von JP Morgan seit März Monat für Monat gestiegen. Im August nahm die Zahl der genehmigten Neubauprojekte erstmals seit zwei Jahren wieder deutlich zu.
Der Markt scheint die steigende Nachfrage der Immobilienkäufer vorwegzunehmen. Denn seit April vergeben argentinische Banken erstmals seit zehn Jahren wieder Hypothekenkredite an Hauskäufer. Ein typischer Kredit mit einer Laufzeit von 20 Jahren und einer Kreditsumme von 250 000 Dollar kostet zwischen 3,5 und 8,5 Prozent Zinsen pro Jahr – plus die Inflation, die derzeit bei 237 Prozent pro Jahr liegt.
Die Immobilienkredite wären für Europäer ein Albtraum
Für europäische Immobilienkäufer wäre das ein Albtraum – doch die Argentinier setzen darauf, dass die Inflation unter Milei weiter sinkt und damit auch die Ratenzahlungen in Zukunft. Für viele ist es die erste Chance seit langem, über eine Finanzierung an eine eigene Immobilie zu kommen. Ein Weg, der viele Jahre verschlossen war.
Die Banken vergeben die Immobilienkredite, weil ihnen nicht viel anderes übrig bleibt. Ihre Einnahmen aus hoch verzinsten Anleihen sind weggebrochen, seit die Zentralbank seit Mileis Amtsantritt den Leitzins von 133 Prozent im Jahr auf rund 50 Prozent gesenkt hat. Die Währungshüter wollen damit verhindern, dass die Finanzierungskosten der Staatsschulden immer weiter steigen und sie neues Geld drucken müssen.
Den Banken ging damit eine Verdienstmöglichkeit verloren: Sie hatten dem Staat zuvor zu immer höheren Zinsen Geld geliehen. Damit konnten sie lange Zeit hohe Renditen einstreichen. Nun müssen sie ihr Geld wieder im klassischen Kreditgeschäft verdienen.
Dazu erhöht die Steueramnestie die verfügbare Liquidität auf dem lokalen Markt. Der «Blanqueo» (etwa: «Weisswaschung») des Schwarzgeldes soll in drei Stufen bis Mitte nächsten Jahres laufen, wobei die Strafen sukzessive steigen. Wer sein wieder legalisiertes Geld allerdings in argentinische Staatsanleihen oder Aktien investiert, muss keine Abschläge hinnehmen. Gleiches gilt für Immobilien.
Man kaufte ein Haus mit einem Sack voll Bargeld
Die Regierung Milei rechnet damit, dass die Argentinier rund 40 Milliarden Dollar ihres Schwarzgeldes zurückholen und in den legalen Geldkreislauf integrieren können. Unter dem letzten marktfreundlichen Präsidenten Mauricio Macri wurden 2016 mehr als 100 Milliarden Dollar legalisiert.
Die Steueramnestie soll auch zur Normalisierung des Immobilienmarktes beitragen. «Argentinien ist das einzige Land der Welt, in dem man ein Haushaltsgerät in 12 zinslosen Raten kaufen kann, aber ein Haus mit einem Sack voll Bargeld», sagte Gaston Rossi, Direktor der Banco Ciudad in Buenos Aires, gegenüber Bloomberg.