Nach einem Jahr gibt es in Argentinien statistisch gesehen weniger Arme als zu Mileis Amtsantritt. Doch die Erhebung ist veraltet.
Unter dem argentinischen Präsidenten Javier Milei ist die Armutsrate deutlich geschrumpft – nachdem sie zu Beginn seines ersten Regierungsjahres vor allem wegen Rentenkürzungen stark angestiegen war. Bis Ende 2024, also nach zwölf Monaten im Amt, fiel die Armutsquote von knapp 53 Prozent auf jüngst 38 Prozent, wie das argentinische Statistikamt Indec mitteilte.
Das ist ein Rückgang um fast 15 Prozentpunkte – und Milei feiert das als grossen Erfolg seiner Politik. «Nehmt das zur Kenntnis, Mandriles, ihr Paviane», triumphierte Milei in den sozialen Netzwerken.
Die Reduzierung der Armut in nur einem Jahr ist zweifellos ein wichtiger politischer Erfolg für Milei. Tatsächlich ist sie heute etwas niedriger als fast während der gesamten Regierungszeit seiner peronistischen Vorgänger Alberto Fernández und seiner Vizepräsidentin Cristina Kirchner – die allerdings mit den Folgen der Covid-Pandemie zu kämpfen hatten.
Die sinkende Inflation lässt die Armutsrate schrumpfen
Bei Mileis Amtsantritt lag die Armutsrate bei 41,7 Prozent. Dass sie inzwischen gesunken ist, liegt vor allem an der sinkenden Inflation. Milei drückte die Geldentwertung von 276 Prozent vor einem Jahr auf jetzt 67 Prozent, indem er die Staatsausgaben stark kürzte und die Zentralbank anwies, kein neues Geld zu drucken. Die Regierung erklärte nun, die makroökonomische Stabilität und der Abbau von Restriktionen, die jahrelang das wirtschaftliche Potenzial der Argentinier eingeschränkt hätten, seien auch der Grund für die sinkende Armutsrate.
Dennoch gibt es wenig zu feiern: Noch immer sind 11,3 Millionen der 45 Millionen Einwohner arm. Für 2,5 Millionen Menschen reicht das Einkommen nicht aus, um den täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken. Die am stärksten von Armut betroffene Bevölkerungsgruppe sind Kinder unter vierzehn Jahren: Fast 52 Prozent der Kinder und Jugendlichen dieser Altersgruppe sind arm. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis für das einst reichste Land Südamerikas mit einer für die Region breiten Mittelschicht.
Zweifel gibt es auch an der Aussagekraft der Armutsquote, die das Statistikamt Indec zweimal jährlich nach einer Haushaltsbefragung veröffentlicht. So berechnet das Statistikamt die Armut mit einem Warenkorb aus dem Jahr 2004, was bedeutet, dass viele aktuelle Lebenshaltungskosten nicht adäquat abgebildet werden. Der Warenkorb berücksichtigt kaum die Kosten für Internet, digitale Dienste oder steigende Gesundheits- und Bildungskosten.
Eine Änderung der Erhebungsmethode ist jedoch politisch schwierig. Opposition und Bevölkerung würden jede Änderung misstrauisch begleiten und der Regierung unterstellen, die Erhebungen in ihrem Sinne zu manipulieren.
Peronisten manipulierten die Inflations- und Armutszahlen
Das liegt an der Vorgeschichte: Unter Präsidentin Cristina Kirchner, die heute im Senat in der Opposition sitzt, wurden von 2007 bis zum Ende ihrer Amtszeit 2015 die Inflations- und Armutsdaten des Statistikamtes systematisch geschönt – so sehr, dass internationale Organisationen sie lange nicht mehr akzeptierten. Erst 2016 unter dem bürgerlichen Präsidenten Mauricio Macri erlangte die Behörde ihre Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit zurück.
Dennoch verliert die aktuelle Armutsquote an Aussagekraft, wenn grosse Teile der Bevölkerung den Rückgang der Armut in ihrem Alltag nicht spüren. Denn Mileis Reformen im Staat haben die Kaufkraft der Bevölkerung zunächst deutlich geschwächt. Dies trifft vor allem die Mittelschicht und die Rentner: Die zuvor subventionierten oder eingefrorenen Mieten, Strom-, Medikamenten- und Metropreise sind deutlich gestiegen.
Während der Kaufkraftverlust der Armen durch direkt ausbezahlte Sozialleistungen zumindest teilweise abgefedert wird, können Rentner und Festangestellte nur hoffen, dass die stabilere Währung ihre Kaufkraft mittelfristig erhöht. Bei den Reallöhnen ist dieser Effekt bereits zu beobachten. Auch die durch den überbewerteten Peso verbilligten Importe tragen dazu bei, dass die Bevölkerung weniger für langlebige Konsumgüter (Kleidung, Elektroartikel) ausgeben muss.
Ob die Armut nun weiter zurückgeht, ist jedoch fraglich. Denn die Inflation geht seit drei Monaten nur langsam zurück. Und irgendwann wird die Regierung den Kurs des Peso gegenüber dem Dollar freigeben müssen – was die Inflation und damit die Armut wieder ansteigen lassen könnte.
Nur mit mehr Arbeitsplätzen wird die Armut dauerhaft sinken
Aber eine Abwertung ist unausweichlich: Denn Investoren zögern, ihr Geld nach Argentinien zu bringen, wenn sie eine Abwertung erwarten. Investitionen von in- und ausländischen Unternehmen sind aber wichtig, um die Wirtschaft anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen und damit langfristig die Armut zu reduzieren.
Ein Blick zurück macht dies deutlich: Unter dem wirtschaftsnahen Präsidenten Macri wurde die Wirtschaft vor allem durch Investitionen angekurbelt. In der Folge sank die Armutsquote zwischen 2015 und 2019 erstmals auf historisch niedrige Werte: Ende 2017 lag sie bei knapp 26 Prozent, 12 Prozentpunkte unter dem heutigen Niveau.
Inzwischen führt die kaum verbesserte persönliche Situation der meisten Menschen zu einer sinkenden Beliebtheit von Milei: Seit Jahresbeginn geht die jüngst noch hohe Popularität von Milei zurück – das zeigen übereinstimmend Umfragen mehrerer Institute: Atlas Intel ermittelte beispielsweise, dass die positive Bewertung Mileis seit Dezember von 54 auf 45 Prozent gesunken ist. Noch schlechter sind die Werte für seine Regierung insgesamt: 58 Prozent der Befragten lehnen sie heute ab.
Lucas Romero von der Beratungsfirma Synopsis vermutet, dass die Menschen dem Erfolg bei der Inflationsbekämpfung – der im ersten Jahr massgeblich zu Mileis Popularität beigetragen hatte – inzwischen weniger Priorität einräumen. «Die Menschen sind heute eher besorgt über die zunehmende Korruption, die mangelnde öffentliche Sicherheit und die hohe Arbeitslosigkeit.» Das Ausbleiben einer spürbaren Verbesserung der Lebensqualität lasse die Zweifel an der Kompetenz der Regierung wachsen.