Die Zwei-Millionen-Vorstadt La Matanza bei Buenos Aires war immer die wichtigste Bastion der Peronisten – bis der libertäre Präsident dort überraschend viele Stimmen gewann.
Eduardo Lalo Creus war 27 Jahre alt, als er eines Morgens feststellen musste, dass er vor dem Nichts stand. Er leitete eine Filiale eines amerikanischen Sicherheitsspezialisten in den argentinischen Anden mit 74 Mitarbeitern. Doch die Konzernleitung beschloss damals Anfang 2002 von einem Tag auf den anderen, die Niederlassung in Argentinien zu schliessen und das Land zu verlassen. Creus musste mit der Familie zu seiner Mutter ziehen. Dorthin, wo er aufgewachsen war. Nach La Matanza.
Das ist eine Gemeinde in der südwestlichen Peripherie von Buenos Aires. Dort leben knapp zwei Millionen Menschen. Nach Einwohnern wäre es die zweitgrösste Stadt Argentiniens. Es dauert dorthin nur 40 Minuten vom Zentrum der Hauptstadt mit dem Auto. Doch anders als in Buenos Aires erinnert in La Matanza nichts mehr an Paris oder Wien.
Es ist eine Peripherie wie um jede lateinamerikanische Metropole: Es gibt heruntergekommene Fabriken und kleine Gewerbegebiete. Die Abwässer fliessen in stinkende Kanäle. Die Strassen sind nur zum Teil asphaltiert. Bei Regen verwandeln sie sich in Schlammlöcher. Es gibt verschimmelte Sozialbauten, aber auch aufgeräumte Mittelschichtsviertel mit vergitterten Fenstern. Überall liegt Müll herum. Es gibt eine Bahnverbindung in die nahe Hauptstadt. Doch mehr als die Hälfte der Bewohner von La Matanza sei noch nie dort gewesen, sagt Creus.
Nach La Matanza kamen immer schon die Abgehängten
Schon immer kamen die Armen oder Abgehängten nach La Matanza. Vor hundert Jahren waren es europäische Einwanderer aus Spanien und Italien. Später siedelten dort Immigranten aus anderen Teilen Argentiniens, wie Creus. Danach kamen Wirtschaftsflüchtlinge aus Bolivien und Paraguay, zuletzt aus Venezuela.
Als Creus nach La Matanza zurückkehrte, fand er keine Arbeit. Viele Fabriken hatten geschlossen. Der Peronist Carlos Menem hatte als Präsident (1989–1999) das Land geöffnet und den Peso an den Dollar gekoppelt. Argentiniens Industrieprodukte waren im Ausland zu teuer. Das führte zu einer Deindustrialisierung. Aber die Argentinier mit Dollars konnten reisen und billig im Ausland einkaufen. Doch in La Matanza grassierte die Armut und bald der Hunger.
Die Gemeinde hat sich nie mehr erholt: Von den einst Hunderten von Fabriken sind heute noch zwei Unternehmen übrig, die mehr als 500 Menschen beschäftigen. Eines davon ist die staatliche Raffinerie YPF, ein rostiges Industrie-Ungetüm zwischen Wohngebieten.
Die Armut hat zugenommen. Die Wirtschaft wächst seit zehn Jahren nicht mehr. Die Inflation beträgt 280 Prozent. Auch heute wie damals gibt es zahlreiche Suppenküchen in La Matanza.
Auch Creus musste zu einer der Küchen für Arme, die von politischen Aktivisten im Viertel organisiert wurden. Er schämte sich. «Ich steckte die Tupper-Dosen in meinen Rucksack und machte grosse Umwege, um schliesslich in der Nachbarschaft Essen für meine Familie zu bekommen.»
Und doch hat sich etwas verändert: «Wir hatten damals alle unsere Jobs verloren», sagt Creus, heute 49 Jahre alt, der weiter in La Matanza lebt. «Heute haben viele der Menschen, die zu den Armenküchen gehen, noch nie eine feste Arbeit gehabt.» La Matanza sei zu einem Mechanismus geworden. «Ein Mechanismus, der Armut produziert», sagt er. Er glaubt, dass das politisch gewollt ist.
Der Wind dreht gegen die Peronisten
Lalo Creus empfängt mit verschränkten Armen in einer Art Werkstatt am Rande einer Stadtautobahn. Es ist sonnig, aber kalt. Eine Mate-Kalebasse kreist zwischen ihm und zwei Getreuen. Eine Hundemeute beschnuppert den Besucher. Ein hellblauer Wahlkampfbus steht im Hof.
Letztes Jahr hat Creus bei der Wahl zum Intendente, dem Bürgermeister, für die bürgerliche Wahlallianz Juntos por el Cambio in La Matanza kandidiert. Das war eine Herausforderung an die Lokalpolitik. Deswegen steht auf dem Bus der provokative Spruch: «La Matanza hat Eier! Lalo Creus als Intendente!»
Bei der gleichen Wahl wurde der libertäre Javier Milei zum Präsidenten gewählt. Creus und der Kandidat von Präsident Milei bekamen zusammen auf 40 Prozent. Die Peronisten gewannen mit 60 Prozent. Das war für sie eine Blamage. «Für uns war es ein Sieg», sagt Creus.
Der zum dritten Mal gewählte peronistische Intendente Fernando Espinoza hatte noch 2015 über 80 Prozent der Stimmen abgeräumt. «Wir spüren, wie sich mit der Wahl Mileis der Wind gegen die Peronisten dreht», meint Creus.
Dazu muss man wissen: La Matanza ist seit 75 Jahren eine Hochburg der Peronisten. Diese waren für den Aufstieg und den Machterhalt des linken Peronisten-Präsidentenpaars Néstor und Cristina Kirchner ab 2003 bis 2015 wichtig. Auch Alberto Fernández, ein gemässigter Peronist, konnte 2019 auf die Stimmen aus La Matanza für den Einzug ins Präsidentenamt zählen.
Die Gemeinde gehört zur Provinz Buenos Aires, in der fast 18 der 46 Millionen Argentinier leben. Diese Provinz ist seit Mileis deutlichem Wahlsieg ein Rückzugsort der Peronisten geworden – und La Matanza ist so etwas wie die Herzkammer des Peronismus.
Die Bürgermeister waren bis vor kurzem unantastbar
In La Matanza sind die Symbole des Peronismus allgegenwärtig. In einem Stadtteil namens Ciudad Evita hat der Präsident Juan Domingo Perón 1947 eine Siedlung für 15 000 Familien bauen lassen. Sie wurde nach seiner Frau Eva «Evita» Duarte benannt. Die Siedlung hat aus der Luft das Profil der Präsidentengattin, die in Richtung des nahen Flughafens «winkt».
Der Sozialfonds zum Bau und Unterhalt der Siedlung wurde von «Evita» verwaltet. Diese Ämtervermischung hat bis heute Tradition in La Matanza. Auch der regierende peronistische Intendente soll Baufirmen besitzen, welche die öffentlichen Bauten ausführen. «Die Peronisten regieren hier schon immer, als sei die Gemeinde ihr Privatbesitz», sagt Creus.
Doch sie verlieren an Macht. Das sieht man daran, dass der neue Intendente angeklagt ist. Er soll seine Assistentin sexuell belästigt haben. Die Frau versteckte sich drei Jahre lang im Ausland, bevor sie sich traute, auszusagen. Es wäre vor kurzem unvorstellbar gewesen, dass gegen einen so mächtigen Mann wie Espinoza ein Verfahren eröffnet werde, sagt Creus.
Die Wahl Mileis hat zu einem Bruch im politischen System geführt. Dieser setzt sich jetzt in der Justiz fort. So würden die gleichen Richter, die vor kurzem noch die Peronisten geschützt hätten, jetzt Verfahren gegen diese zulassen, so Creus. Milei habe das bestehende politische System auf Bundesebene als Aussenseiter zerstört. Das mache ihn glaubwürdig. Seine Kritik an der politischen «Kaste» treffe den Nerv der meisten Menschen.
Creus hat Milei erst in der Stichwahl gewählt. Doch er hofft, dass der libertäre Präsident den Peronismus stürzt. La Matanza könnte dabei eine Schlüsselrolle für Mileis Zukunft spielen. Creus sagt: «Wenn Milei hier im Hort des Peronismus die Mehrheit bekommt, dann kann er ganz Argentinien von Grund auf verändern.» Die Chancen stünden gut, meint er: «Die Menschen wollen nicht mehr in permanenter Abhängigkeit gehalten werden.»
Er fährt mit seinem alten Auto los, um das zu erklären. Nahe der Raffinerie hält er an. Die wenigen übrig gebliebenen Betriebe wurden mit dem Versprechen gelockt, Teil eines Industrieparks mit der entsprechenden Infrastruktur zu werden. Kaum eines dieser Unternehmen arbeitet legal – was sie erpressbar macht gegenüber den Behörden. «Sie schneiden dir ein Bein ab, und du bedankst dich für die Krücke, die sie dir geben», meint Creus.
Die Politiker sind Manager der Armut
Auch die Menschen in den Vierteln mit den vergitterten Häusern sind «Geiseln» der lokalen Politik. Die Gemeinde siedelt sie an, gibt ihnen aber keine Besitztitel für ihre Grundstücke und hält sie damit in ewiger Abhängigkeit. Private Stadtentwickler sind nicht zugelassen. Für jeden Strommast oder jede Wasserleitung müssen die Menschen mit den Punteros verhandeln, den Vertrauensleuten der Politiker in den Vierteln.
In der Nähe von heruntergekommenen Sozialwohnungen treffen wir Miguel Angel Caldeira und seine Familie. Er wohnt in einem Zwei-Zimmer-Reihenhaus in einer «villa», also einem Slum. Um das Viertel stapelt sich der Müll. Jugendliche mit glasigem Blick lungern zwischen den Abfällen herum. «Sie rauchen Paco», sagt Creus. Das ist Cocapaste, die Droge der Armen in Argentinien. In La Matanza werden die Drogenbanden immer mächtiger.
Die Gasse vor Caldeiras Haus ist sauber gefegt. Der 50-Jährige wird wegen seines eingewanderten Grossvaters «der Brasilianer» genannt. Er hält das Viertel mit einem kleinen Trupp von Gleichgesinnten instand. 33 Jahre hätten sie auf Strom gewartet, sagt Caldeira. Der Grund für die Verzögerung: Sie gehörten nicht zu den Peronisten, erklärten die Punteros immer wieder. Man könne nur etwas für sie tun, wenn sie politisch aktiv würden. «Ich mache mir Sorgen um meine Kinder», sagt Caldeira. «Wie sollen die hier mal rauskommen?»
«Die Politiker sind hier Manager der Armut», kommentiert Creus. Doch es hat einige Jahre gedauert, bis Creus das so sah. Auch er hat sich gewandelt. Nach seiner Rückkehr nach La Matanza näherte sich Creus den Piqueteros an, linksradikalen Gruppierungen, die in den 2000er Jahren Strassen blockierten und so ihren politischen Forderungen Nachdruck verliehen. Sie waren die Einzigen, die Creus und seine Familie unterstützten. Doch ihn störte, dass die Führer der Piqueteros sich von den Peronisten einspannen liessen: «Diese missbrauchen die sozialen Einrichtungen als ein politisches Instrument.»
2008 kam es zu einem landesweiten Streik der Landwirte gegen die Regierung von Cristina Kirchner. Diese wollte die Steuern für die von ihr angefeindete «Agraroligarchie» massiv erhöhen. Teile der linken Piquetero-Bewegung schlossen sich mit den Farmern zusammen. Creus war einer der Anführer. «Der Feind meines Feindes ist mein Freund», erklärt Creus den überraschenden Schulterschluss mit den konservativen Landwirten.
Bis heute ist Creus bei den Peronisten wie bei vielen Piqueteros verhasst. Wenn jemand dem kräftigen Mann in den Strassen von La Matanza zu nahe kommt, wird Creus misstrauisch. Die meisten Menschen hier seien bewaffnet, erklärt er.
Bürgerliche Politiker haben La Matanza kampflos aufgegeben
Creus gründete 2006 in La Matanza eine Nachbarschaftsorganisation. Sie heisst Identidad Vecinal. Sie betreibt Kindergärten, Werkstätten, Erste-Hilfe-Stationen und Suppenküchen. Private Unternehmen unterstützen die Organisation.
Mit Identidad Vecinal wurde Creus vor einigen Jahren landesweit bekannt als sozialer Aktivist. Nachdem ein Kind gestorben war, weil es während eines Asthma-Anfalls nicht vom Krankenwagen geholt werden konnte, der im Schlamm steckengeblieben war, besetzte er mit den Menschen aus seinem Viertel die lokale Gemeindeverwaltung. Sie forderten Verbesserungen in der Infrastruktur. Die konservativen Medien filmten live. Sie wollten dabei sein, wenn die peronistische Verwaltung in ihrem Stammgebiet unter Druck kam.
«Bürgerliche Politiker trauen sich kaum hierher», sagt Creus. Noch nie habe jemand versucht, die Peronisten hier ernsthaft herauszufordern. «La Matanza wurde ihnen immer kampflos überlassen.»
Nun ist Creus gespannt, wie sich Milei verhalten wird. Wenn die Wirtschaft sich erhole, dann habe Milei gewonnen, sagt er. Creus fragt sich, ob Milei auch in La Matanza die «Kaste» wegfegen oder sich mit den peronistischen Machthabern arrangieren wird, wie die Politiker vor ihm. «Milei hat die grosse Chance für den wirklichen Wandel», sagt Creus. Ob er ihn durchsetzen werde, das sei offen.