1966 startete Mao Zedong die katastrophalste Kampagne seiner Regierungszeit. Sogar Jugendliche und Kinder wurden angestiftet, gegen die «Wegbereiter des Kapitalismus» zu kämpfen.
Mitte Juni 1976 rief der todkranke Mao Zedong seine Frau Jiang Qing, seine Grossnichte Wang Hairong, seinen designierten Nachfolger Hua Guofeng und seine Sekretärin und Geliebte Zhang Yufeng zu sich. Im Bett liegend, keuchte er, er habe in seinem Leben zwei wichtige Aufgaben begonnen: Er habe über mehrere Jahrzehnte gegen Chiang Kai-shek gekämpft und ihn auf die Inseln vertrieben, und während des achtjährigen Krieges gegen Japan habe er die japanischen Soldaten aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Als zweite Aufgabe nannte er den Beginn der Grossen Kulturrevolution. Beide Aufgaben, sagte Mao seinen Vertrauten, seien unvollendet. Dieses «Erbe» müsse an die nächste Generation weitergegeben werden. Wie sie damit umgehen werde, wisse nur der Himmel.
Drei Monate später, am 9. September 1976, starb Mao. Seitdem haben alle Nachfolger versucht, die erste Aufgabe zu vollenden: die «Befreiung Taiwans». Auch Xi Jinping hat sie auf seiner Agenda. Die zweite Aufgabe haben die chinesischen Führer aufgegeben: die Vollendung der Kulturrevolution. Darüber hinaus verkündeten sie kurz nach dem Tod des «Grossen Steuermanns», die Volksrepublik China habe während der zehn Jahre dieser Revolution unter «der korruptesten und dunkelsten feudal-faschistischen Diktatur» gestanden. Diese Revolution sei verantwortlich «für den schwersten Rückschlag und die schwersten Verluste», die die Partei, der Staat und das Volk seit der Gründung der Volksrepublik erlitten hätten.
Tatsächlich brachte die Grosse Proletarische Kulturrevolution, die Mao 1966 ins Leben rief, grosses Unglück über das chinesische Volk. Zwischen 1,5 und 3 Millionen Menschen wurden von 1966 bis 1976 gefoltert, erschossen oder in den Suizid getrieben. Weitere hundert Millionen litten in irgendeiner Form unter ihren Folgen.
Aber hat die Kulturrevolution wirklich eine neue – feudal-faschistische – Diktatur in der VR China geschaffen? Unterscheidet sich diese Herrschaftsform von der kommunistischen Kontrolle in den Jahren zuvor? Immerhin waren zwischen 1949 und 1966 mindestens 40 Millionen Chinesen ums Leben gekommen, infolge von politischen und sozialen Kampagnen gegen verschiedene «Feinde», von Landbesitzern bis zu Intellektuellen. Allein während der Grossen Hungersnot von 1959 bis 1962 waren es mindestens 35 Millionen Menschen.
«Wir müssen wachsamer werden»
Anders als andere repressive Kampagnen richtete sich die Kulturrevolution direkt gegen die bürokratische Elite der Partei. Mao erklärte offen, dass das Ziel bestehe darin, «gegen diejenigen Personen in Machtpositionen zu kämpfen, die den kapitalistischen Weg einschlagen». Er dachte an Parteifunktionäre, die seiner Meinung nach den Kapitalismus wiederherstellen wollten. Bereits 1962 war er zu dem Schluss gekommen, dass es in verschiedenen Bereichen eine Restauration gegeben habe. «Wir müssen wachsamer werden», schloss er. Die Jugend müsse erzogen werden, genauso wie die Kader und die Massen. Sonst werde der Staat einen Rückschritt machen.
Zwei Faktoren beeinflussten Mao. Der erste war Nikita Chruschtschows Verurteilung Stalins im Jahr 1956, auf die die Krisen in Polen und Ungarn sowie der Bruch zwischen China und der Sowjetunion folgten. «Die Sowjetunion besteht bereits seit mehreren Jahrzehnten», erklärte er, «und dennoch ist dort ein Revisionismus aufgetaucht, der dem internationalen Kapitalismus dient. Die Bourgeoisie könnte wiederaufleben.»
Der zweite Faktor war die Reaktion einiger hochrangiger Parteifunktionäre auf den Zusammenbruch des «Grossen Sprungs nach vorn» und die Grosse Hungersnot. Auf einer Parteikonferenz Anfang 1962 wurde Mao von einigen Kadern kritisiert, unter anderen vom Pekinger Bürgermeister Peng Zhen. Daraufhin schlugen seine engsten Vertrauten wie Liu Shaoqi, Chen Yun und Deng Xiaoping eine umfassende wirtschaftliche Reform vor, um durch die Wiederbelebung von Anreizen ein stetiges Wachstum zu sichern. Für Mao war dies ein Zeichen des Verrats am Sozialismus. Er kritisierte Liu und die anderen scharf: «Seid ihr für den Sozialismus oder für den Kapitalismus?», fragte er sie.
Seitdem verfolgte ihn der Geist der Restauration. Er überlegte, welcher seiner engsten Mitstreiter «Chinas Chruschtschow» werden würde, wer ihn nach seinem Tod verurteilen und wer den Kapitalismus wieder einführen würde. Er beschloss, allen potenziellen «Kapitalisten» – also den Machthabern, die den kapitalistischen Weg einschlagen könnten – harte Schläge zu versetzen.
Die Logik des Klassenkampfs
Die Kulturrevolution war nicht Maos Kampf um die Macht. Er genoss bereits immense Autorität, und obwohl einige Parteiführer hinter verschlossenen Türen manchmal mit ihm uneinig waren, verehrten ihn alle. Doch Mao vermutete, eine grosse Zahl von Parteigenossen hegten heimlich böse Absichten. Gefolgsleute trugen ihm zu, die Lage sei alarmierend. Schliesslich kam Mao zu dem Schluss, in mindestens der Hälfte der Parteizellen hätten «Klassenfeinde» die Macht übernommen.
Das setzte in seinem Denken die Logik des Klassenkampfs in Gang, dem in den folgenden Jahren unzählige Menschen zum Opfer fallen sollten. Denn aus Maos Sicht reichte es nicht, nur «die Kapitalisten» zu stürzen, um die kapitalistische Restauration zu verhindern. Seiner Meinung nach war die Bourgeoisie immer noch versucht, die alten Ideen, die Kultur, die Sitten und Gebräuche der ausbeutenden Klassen zu nutzen – mit dem Ziel, die Massen zu korrumpieren, ihre Gedanken zu kontrollieren und ein Comeback der vorrevolutionären Zeit zu inszenieren.
Mao glaubte, der Aufbau des Sozialismus erfordere mehr als nur die Abschaffung des Privateigentums und die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Um den Sozialismus zu sichern, musste seiner Überzeugung nach die menschliche Kultur als Ganzes verändert werden. Die Menschen mussten ihr egoistisches Selbst aufgeben. Andernfalls würden sie weiterhin Reichtum anhäufen, und der Kapitalismus käme nie an ein Ende. Damit erreichten die utopischen sozialistischen Ideen von Marx und Lenin ihren logischen Schluss. Mao begann seinen letzten Kampf für den Sozialismus – gegen die menschliche Natur.
Der Kulturrevolution ging die Kritik an einem Theaterstück voraus, das der stellvertretende Bürgermeister von Peking, Wu Han, 1961 geschrieben hatte: «Die Entlassung des Hai Rui aus dem Amt» erzählt die Geschichte eines mutigen Beamten im 16. Jahrhundert, der es gewagt hatte, einem moralisch verkommenen Kaiser der Ming-Dynastie die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Ende 1964, als Mao über die Gefahren einer Restauration nachdachte, erinnerte er sich an das Stück. Da dessen Autor ein direkter Untergebener des Bürgermeisters Peng Zhen war, beschloss er, es öffentlich zu kritisieren.
Wer ist Chruschtschow?
Mao vermutete, Wu Han habe auf Geheiss von Peng Zhen eine Parallele zwischen ihm und dem unmoralischen Ming-Kaiser gezogen. Peng wiederum gehörte zu den engsten Vertrauten des Vorsitzenden der Volksrepublik China, Liu Shaoqi, und des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei, Deng Xiaoping. In Maos fiebrigem Gehirn fügte sich alles zu einer perfekten Verschwörung zusammen: Wu Han, Peng Zhen, Liu Shaoqi und Deng Xiaoping waren in einer «bösartigen Bande» vereint.
Im Februar 1965 schickte Mao seine Frau Jiang Qing nach Schanghai, um die Veröffentlichung eines Artikels zu veranlassen, in dem das Stück als konterrevolutionär kritisiert wurde. Der Artikel wurde im November 1965 in Schanghai veröffentlicht. Am 16. Mai 1966 berief Mao eine Sitzung des Politbüros ein. Sie verabschiedete den Text eines Communiqués an die Parteiorganisationen im ganzen Land, in dem die Einrichtung einer direkt dem Politbüro unterstellten kulturrevolutionären Gruppe angekündigt wurde. Die ganze Partei wurde aufgefordert, «das grosse Banner der proletarischen Kulturrevolution hochzuhalten».
Einige Absätze waren von Mao selbst verfasst worden. Der wichtigste lautete: «Die Vertreter der Bourgeoisie, die sich in die Partei, die Regierung, die Armee und verschiedene Kulturkreise eingeschlichen haben, sind ein Haufen konterrevolutionärer Revisionisten. Sobald die Bedingungen reif sind, werden sie die politische Macht ergreifen und die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur der Bourgeoisie verwandeln. Einige von ihnen haben wir bereits durchschaut, andere noch nicht. Einige geniessen noch unser Vertrauen und werden zu unseren Nachfolgern ausgebildet, Personen wie Chruschtschow zum Beispiel, die sich noch immer an unsere Seite kuscheln.»
Das Communiqué rief die Bevölkerung zur Beteiligung an der Kulturrevolution auf. Mao räumte allen Chinesinnen und Chinesen das Recht ein, über «revisionistische Parteimitglieder», unter ihnen auch «grosse Parteityrannen», zu urteilen. Doch niemand wusste, wen der «Grosse Steuermann» genau meinte, wenn er von «Personen wie Chruschtschow» sprach, die «als unsere Nachfolger ausgebildet werden» und «sich noch immer an unsere Seite kuscheln».
«Völlige Unordnung unter dem Himmel»
Jeder wusste, dass Maos Erbe Liu Shaoqi war, aber niemand hielt ihn für einen Verräter. Zhang Chunqiao, einer der bekanntesten Politiker, erinnerte sich später: «Als die Bewegung begann, verstanden viele Menschen die Worte des Vorsitzenden nicht und reagierten kaum darauf. Insbesondere auf die Passage über ‹Personen wie Chruschtschow, die sich noch immer an unsere Seite kuscheln›. Damals verstand ich diese Passage nicht wirklich. Ich konnte nur an Peng Zhen denken und hatte Liu Shaoqi nicht vollständig auf dem Schirm.»
Kurz darauf schickte Kang Sheng, ein Berater der Revolutionsgruppe, auf Befehl Maos seine Frau an die Universität Peking. Dort stachelte sie ihren Bekannten Nie Yuanzi an, Studenten zu mobilisieren, um das Stadtkomitee der Kommunistischen Partei und die Verwaltung dieser Hochschule öffentlich zu kritisieren. Am 25. Mai hängte Nie zusammen mit sechs Studenten ein «dazibao» (grosses Plakat) an die Wand des Speisesaals. Darin beschuldigten sie mehrere Führungskräfte des Pekinger Stadtkomitees und den Rektor der Universität, «eine revisionistische Linie zu verfolgen, die sich gegen das Zentralkomitee und Mao Zedongs Gedanken richtet».
Sie behaupteten, diese Führungskräfte würden die jüngere Generation auf reaktionäre, kapitalistische Weise beeinflussen. Sie folgten Mao, der behauptete: «Wir brauchen keinen blinden Glauben oder Zurückhaltung. Wir brauchen eine neue Intelligenz, neue Sichtweisen, einen neuen kreativen Ansatz. Was wir also brauchen, ist, dass die Studenten die Professoren stürzen.»
Mao lobte diese Verleumdung sofort und liess das «dazibao» über Massenmedien verbreiten. Danach begannen Studenten im ganzen Land, Verlautbarungen gegen ihre lokalen Behörden und Professoren zu schreiben. Am 8. Juli 1966 schrieb Mao an seine Frau einen Brief, in dem er das «Chaos» lobte: «Völlige Unordnung unter dem Himmel wird zu allgemeiner Ordnung führen. Das wiederholt sich alle sieben oder acht Jahre. Alle möglichen Schädlinge werden aus ihren Löchern kriechen. Sie können nicht anders, denn das liegt in ihrer Klassennatur.»
Am 1. August sandte Mao einen Gruss an eine der Jugendorganisationen, die am 29. Mai in einer Mittelschule der Tsinghua-Universität gegründet worden waren. Diese Organisation nannte sich «hongweibing» (Rote Garden), ein Name, der Mao sehr gefiel. Er lobte ihre Mitglieder: «Ganz gleich, wo sie sich befinden, ob in Peking oder anderswo in China, ich werde alle, die in der Kulturrevolution eine ähnliche Haltung einnehmen wie ihr, enthusiastisch unterstützen.»
Vom Töten berauscht
Nachdem der Brief veröffentlicht worden war, wurden überall im Land Rotgarden-Gruppen unter jungen Studenten organisiert. Mit einer solchen Armee wollte Mao «den Himmel stürmen». «Wir glauben an die Massen», verkündete er. «Um Lehrer der Massen zu werden, müssen wir zuerst Schüler der Massen sein. Die gegenwärtige grosse Kulturrevolution ist ein Ereignis, das Himmel und Erde erschüttert.»
Während einer Plenarsitzung des Zentralkomitees Anfang August schrieb Mao sein eigenes «dazibao» mit dem Titel «Bombardiert das Hauptquartier», um die Bewegung von den Pädagogen und Schulverwaltern auf die Parteifunktionäre zu lenken. Fünf Tage später stand er auf der Tribüne des Tiananmen-Tors in Peking und begrüsste Hunderttausende begeisterter Rotgardisten, die sich auf dem Platz versammelt hatten. Viele der Studenten waren von Emotionen überwältigt und begannen vor Freude zu weinen.
Von da an überschwemmte eine Welle der Gewalt das Land. Es begann ein blutiges Drama, in dem nicht die Universitätsstudenten, sondern Mittelschüler und sogar Grundschulkinder die Hauptrolle spielten. Es waren Millionen von Jugendlichen und Kindern. Sie waren berauscht davon, alles tun zu dürfen, ohne dafür belangt zu werden. In Peking töteten sie in nur zwei Monaten fast zweitausend Menschen, die sie verdächtigten, «Kapitalisten» zu sein. Sie plünderten Tausende von Häusern, raubten Gold, Silber, wertvolle Jadeobjekte und Bargeld in Millionenhöhe.
Nicht nur die Häuser gewöhnlicher Bürger wurden geplündert, auch staatliche Einrichtungen fielen den Roten Garden zum Opfer – in erster Linie Museen und Bibliotheken. Wo immer möglich, wurden historische Denkmäler zerstört. Im November 1966 schleiften Studenten der Pädagogischen Universität Peking, die zum Geburtsort des Konfuzius in der Stadt Qufu in der Provinz Shandong gereist waren, etwa siebentausend Denkmäler, darunter tausend alte Stelen, und schändeten die Grabstätte des grossen Philosophen.
Anfang 1967 begann Mao mit der Säuberung der Partei. Liu Shaoqi, Deng Xiaoping und andere Führungskräfte wurden verhaftet und öffentlich angeprangert. Mitte Oktober 1969 wurde Liu heimlich nach Kaifeng gebracht, wo er starb, gefangen in einem leeren Raum. Ende Oktober wurde auch Deng aus Peking verbannt. Er wurde nicht getötet, sondern erhielt die Möglichkeit, seine «Schuld zu sühnen», indem er in einer Traktorreparaturwerkstatt in der Nähe der Stadt Nanchang in der Provinz Jiangxi arbeitete. Dort blieb er bis Februar 1973.
Die «Viererbande» übernimmt
Unterdessen eskalierte die Kulturrevolution zu einem regelrechten Bürgerkrieg zwischen den radikalen Roten Garden und denen, die versuchten, die Ausschreitungen einzudämmen. Da Mao erkannte, dass sich die jungen Menschen nicht von selbst beruhigen, leitete er Massnahmen gegen sie ein. Er erklärte: «Die grosse Mehrheit unserer Kader ist gut, nur eine winzige Minderheit ist es nicht. Zwar sind diejenigen, die in Machtpositionen stehen und den kapitalistischen Weg einschlagen, unser Ziel, aber es handelt sich nur um eine Handvoll Leute.»
Anfang Juli 1968 forderte Mao die sofortige Beendigung der Unruhen. Wenige Wochen später rückten Truppen der Volksbefreiungsarmee ein. Nur sie waren in der Lage, die Ordnung wiederherzustellen und die Kontrolle über die Universitäten zu erlangen, die nach den Worten des Vorsitzenden zu «kleinen oder grossen unabhängigen Königreichen» geworden waren. Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1968 wurden in den folgenden sieben Jahren etwa 12 Millionen desillusionierte Jugendliche aufs Land deportiert, die meisten von ihnen in Arbeitslager, wo die Mehrheit bis zum Tod des «Grossen Steuermanns» 1976 blieb.
Kurz darauf, im April 1969, berief Mao Zedong den Neunten Parteitag ein, um die Ergebnisse der ersten Phase der Kulturrevolution zusammenzufassen. Die getäuschte Jugend hatte Mao dabei geholfen, potenzielle «Kapitalisten» zu vernichten und «Chinas Chruschtschow» Liu Shaoqi zu entlassen. Aus Maos Sicht waren die Gefahren einer «kapitalistischen Restauration» aber noch nicht gebannt.
Die Kulturrevolution ging weiter, in neuer Form. Die gewalttätige Bewegung radikaler Jugendlicher wurde durch eine Reihe ideologischer Kampagnen ersetzt. Mao initiierte sie, seine radikalsten Untergebenen führten sie aus: seine Frau Jiang Qing, die Vorsitzende der Kulturrevolution, und die Führer aus Schanghai Zhang Chunqiao, Wang Hongwen und Yao Wenyuan. Mao selbst nannte sie ironisch die «Viererbande».
Kurz nach dem Neunten Parteitag begannen sie den innerparteilichen Machtkampf. Ihr erstes Ziel war Verteidigungsminister Lin Biao, der als neuer Erbe Mao Zedongs bestimmt worden war. Die stark zunehmende Rolle der Armee, die für die Wiederherstellung der Ordnung verantwortlich war, rief Unzufriedenheit bei den Anhängern von Jiang Qing hervor, die die Hauptführer der Kulturrevolution waren. Sie waren auch irritiert durch die Überzeugung der Generäle, dass es Zeit sei, sich wieder den Aufgaben der wirtschaftlichen Produktion und der militärischen Modernisierung zuzuwenden.
Ein neuer Feind
Jiang Qing gelang es, Mao zu beeinflussen. Der alternde «Steuermann» stellte sich auf die Seite seiner Frau. Lin war erschüttert. Seine Frau und sein Sohn witterten Gefahr und begannen, einen Staatsstreich vorzubereiten. Dieser schlug jedoch fehl, und der unglückliche Verteidigungsminister musste zusammen mit seiner Familie in die Sowjetunion fliehen. Das Flugzeug, mit dem sie flüchteten, stürzte über der Mongolei ab.
Die «Viererbande» versprach Mao daraufhin, eine ideologische Kampagne zur Kritik an Lin Biao und Konfuzius zu starten. Sie brandmarkten Maos ehemaligen Erben als Reaktionär, der sich der revolutionären Linie widersetzte, und verglichen ihn mit dem alten Philosophen Konfuzius, der konservative Traditionen gegen progressive Tendenzen verteidigte. Ihre Schlussfolgerung: In China gab es noch viele «Konfuziusse», die davon träumten, die Uhr zurückzudrehen.
Diese Kampagne markierte den Beginn des Kampfes gegen einen neuen Feind: den Führer der gemässigten Fraktion und Ministerpräsidenten Zhou Enlai, der sich noch mehr als Lin Biao auf die wirtschaftliche Modernisierung konzentrierte. Jiang Qing und die anderen hetzten bei den Massen gegen Zhou und initiierten ideologische Kampagnen gegen ihn, der zum neuen Hauptfeind des Regimes geworden war. Zhou Enlai erkrankte und wurde ins Krankenhaus eingeliefert, woraufhin Mao Deng Xiaoping aus dem Exil zurückholte.
Er brauchte jemanden, um den kranken Ministerpräsidenten zu ersetzen und die Wirtschaft zu sanieren, die unter der Kulturrevolution gelitten hatte. Die Industrieproduktion war rückläufig, alle wichtigen Konsumgüter waren rationiert, die Arbeitslosigkeit war hoch. Besonders schwierig war die Lage auf dem Land, wo 250 Millionen Bauern hungerten. Das Verkehrssystem hatte mit kolossalen Problemen zu kämpfen: Die Hälfte der Züge fuhren nicht nach Fahrplan, es kam zu schweren Unfällen.
Enorme Mengen an Rohstoffen und Waren erreichten die Verbraucher nicht. Arbeiter, Ingenieure und Techniker beteiligten sich häufig an politischen Kampagnen, Fraktionskämpfe spalteten die Führung von Fabriken und Werken, und die Linken behandelten sachkundige Ökonomen als «klassenfremd», da sie überzeugt waren, dass es besser sei, «rot» zu sein als Experte. Mehr als 30 Prozent der Unternehmen waren unrentabel, es gab chronische Haushaltsdefizite.
Die Utopie scheitert
Nach Dengs Rückkehr starteten die Mitglieder der «Viererbande» ihren letzten Kampf. Erneut gelang es ihnen, Einfluss auf den Vorsitzenden auszuüben, der Deng Xiaoping im April 1976 zum zweiten Mal entliess. Dies geschah kurz nach einer Demonstration auf dem Tiananmen-Platz im Zusammenhang mit dem Tod von Zhou Enlai. Die Demonstranten lehnten sowohl die «Viererbande» als auch die Kulturrevolution ab. Die Polizei unterdrückte die Proteste, aber die Führer der Kulturrevolution konnten sich nicht lange behaupten.
Kurz nach Maos Tod, am 6. Oktober, wurden sie vom neuen Parteivorsitzenden Hua Guofeng verhaftet, der im August 1977 die Kulturrevolution offiziell für beendet erklärte. Einen Monat zuvor war Deng Xiaoping wieder in alle seine Ämter eingesetzt worden, im folgenden Jahr begann die Kommunistische Partei mit der Umsetzung eines Programms umfassender Wirtschaftsreformen.
Zehn Jahre «vollständiger Unordnung unter dem Himmel» brachten dem chinesischen Volk nichts. Maos utopischer Sozialismus war gescheitert. Naive junge Männer und Frauen waren vom «Grossen Steuermann» getäuscht worden. Sie hatten für die strahlende kommunistische Zukunft gekämpft, imaginäre Feinde vernichtet, dabei Kulturgüter und Traditionen vernichtet und die Produktivkräfte geschädigt. Und hatten nichts erreicht.
Trotz Maos Bemühungen verschwand die korrupte Bürokratie nicht, der Wunsch der Menschen nach Wohlstand blieb ungebrochen. Die «Kapitalisten» unter Deng Xiaoping reformierten das sozioökonomische System, belebten die Marktwirtschaft, gaben den Bauern Land und erlaubten die Privatisierung der Produktionsmittel.
Diese Reformen veränderten das Gesicht Chinas erstaunlich rasch. Heute hat China mehr Milliardäre als jedes andere Land. Obwohl es immer noch unter einer totalitären Diktatur steht, floriert die Marktwirtschaft. Den Erfolg dieser Reformen kann man vielleicht auch als Zeihen dafür verstehen, dass der Einfluss des Maoismus, der derzeit noch recht stark ist, nicht lange anhalten wird.
Alexander V. Pantsov ist Professor für Geschichte an der Capital University in Columbus, Ohio. In Moskau geboren, promovierte er an der Russischen Akademie der Wissenschaften. 2014 veröffentlichte Pantsov bei S. Fischer zusammen mit Steven I. Levine das Buch «Mao. Die Biographie». Übersetzung aus dem Englischen: rib.
Die grossen Revolutionen
rib. Revolutionen prägen die Geschichte und verändern die Welt. Aber wie laufen sie ab? Was braucht es, damit sie ausbrechen? Was macht sie erfolgreich, was bringt sie zum Scheitern? Und welche Nebenwirkungen haben sie? In einer Reihe von Artikeln werden in den kommenden Wochen ausgewählte Revolutionen erzählt und die Frage gestellt, welche Folgen sie hatten. Am 16. August schreibt die Islamwissenschafterin Katajun Amirpur über die Iranische Revolution von 1979.