Pokrowsk, Cherson, Dnipro, Awdijiwka: Praktisch täglich greift Russland sein Nachbarland an. In der internationalen Allianz von Kiews Partnern deutet sich eine Verschiebung der Gewichte an.
Knapp 40 Kilometer liegen zwischen der Kohlenstadt Pokrowsk und der Front im Donbass. Wie die NZZ-Reporter im letzten Mai erlebten, ist es die Distanz zwischen einem Ort voller Leben und dem Krieg. Am Wochenende mussten die Bewohner aber zum wiederholten Mal erfahren, wie wenig Schutz diese Distanz bietet: Die Russen beschossen die Region Pokrowsk mit Raketen und töteten mindestens 11 Menschen. Unter ihnen sind fünf Kinder.
Nach fast zwei Jahren Krieg in der Ukraine wirken solche Meldungen fast schon alltäglich. Wir nehmen sie zur Kenntnis und blättern weiter. Dabei geht rasch vergessen, wie zerstörerisch auch nur eine der für Bodenziele umgerüsteten S-300-Raketen ist; am Samstag kamen acht davon gegen Pokrowsk zum Einsatz. Die Rettungskräfte standen danach inmitten einer fast pulverisierten Ruinenlandschaft.
Russland hat über 11 000 Drohnen und Raketen losgeschickt
Trotzdem waren die Angriffe der letzten Tage gegen Pokrowsk, Dnipro und Cherson in ihrer Intensität nicht mit jenen der Jahreswende zu vergleichen. Diese hatten laut der Uno im ganzen Land über 90 zivile Tote gefordert. Die eingesetzten 500 Waffen aus der Luft waren Teil jener 7400 ballistischen Raketen und 3800 Kampfdrohnen, die Russland seit Februar 2022 in die Ukraine schickt.
Mit Anpassungen der Taktik versucht Moskau, die Luftverteidigung zu überlisten. Wie ein Sprecher der Luftwaffe in Kiew erklärte, richteten sich die Attacken jüngst verstärkt gegen frontnahe Gebiete, wo keine westlichen Systeme stehen. Um Abwehrraketen einzusparen, so Juri Ihnat, bekämpfe die Ukraine die Drohnen vor allem durch mobile Einheiten mit spezieller Leuchtmunition aus Maschinengewehren. 21 von 28 Flugobjekten seien abgeschossen worden. Dies zeigt, dass diese Form der Luftverteidigung relativ rudimentär ist, zumal die Drohnen günstig produziert werden und relativ langsam fliegen.
Allerdings muss die Ukraine so handeln, um auf weitere massierte Angriffe vorbereitet zu sein, die höher entwickelte Technik einsetzen. Laut Angaben aus Washington setzte Russland jüngst auch aus Nordkorea gelieferte ballistische Raketen ein. Die Ukrainer müssen ihrerseits damit rechnen, dass der Nachschub an Abwehrraketen aus dem Westen knapper wird.
Warnungen gibt es in letzter Zeit vermehrt, vor allem aus den USA, wo neue Hilfsprogramme politisch blockiert bleiben: Laut John Kirby hat der amerikanische Präsident Ende 2023 das letzte Unterstützungspaket unterzeichnet. «That’s it», sagte der Sprecher des amerikanischen Sicherheitsrates am Mittwoch. «Es gibt keinen Zaubertopf, aus dem wir Hilfe für die Ukrainer schöpfen können.»
Amerikanisches Signal an die Europäer
Solche Rhetorik ist auch ein Signal an die Europäer, vermehrt in die Bresche zu springen. Gleichentags erklärte die Nato, sie helfe einem Konsortium von Staaten aus der Region bei der Beschaffung von 1000 Patriot-Raketen. Der Auftragswert liegt laut Associated Press bei bis zu 5,5 Milliarden Dollar.
Deutschland hat der Ukraine jüngst neue Luftverteidigungssysteme und Munition geliefert. Auch Norwegen und Dänemark kündigten im Dezember neue Hilfspakete im Wert von umgerechnet weit über 1 Milliarde Franken an. Gleichzeitig melden dänische Medien, dass sich die auf Jahresanfang in Aussicht gestellte Lieferung von F-16-Kampfjets um Monate verzögere. Kopenhagen führt dies darauf zurück, dass vor Ort die nötigen Voraussetzungen für Ausbildung und Unterhalt fehlten.
Aufgrund des Rückgangs der Waffenlieferungen aus dem Westen und der eigenen Probleme mit der Mobilisierung neuer Truppen gehen Experten davon aus, dass die Ukraine sich 2024 militärisch in der Defensive befinden wird. Seit dem Herbst haben die Russen ihre Angriffe vor allem in der nahe von Pokrowsk gelegenen Stadt Awdijiwka verstärkt, die sie bis anhin erfolglos einzukreisen versuchen. Die Kämpfe gehen dennoch weiter, mit minimalen russischen Gebietsgewinnen – laut den polnischen Analysten von Rochan Consulting waren es 27 Quadratkilometer in der letzten Dezemberwoche.
Dabei bleibt die Region um Cherson ein Hotspot. Die Stadt steht täglich unter russischem Artilleriebeschuss, während die Ukrainer mühevoll ihre neuen Positionen auf der anderen Seite des Dnipro verteidigen. Hier verfügte Moskau bis Mitte Dezember über eine klare Luftüberlegenheit. Laut dem britischen Geheimdienst hat der Abschuss von drei russischen Su-34-Kampfjets die Intensität der Attacken seither verringert.
Die Ukrainer haben die besetzte Halbinsel Krim über das Wochenende mehrfach mit Marschflugkörpern, Raketen und Drohnen angegriffen. Die Attacken richteten sich gegen Radare und Kommandozentralen der Luftverteidigung. Im Zentrum stand der Militärflugplatz Saki. Die Details sind schwer zu verifizieren: Die Ukrainer hätten erfolgreich mehrere Ziele getroffen, schreibt das Institute for the Study of War. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, man habe alle Angriffe abgewehrt.