Obwohl ihm der Literaturnobelpreis versagt blieb, war der Albaner eine lebende Legende. Mit seinem magischen Realismus vermochte er wie niemand sonst die entsetzlichen Abgründe albanischer Geschichte auszuloten. Nun ist er im Alter von 88 Jahren gestorben.
Der 1936 im südalbanischen Gjirokastra geborene Ismail Kadare war einer der grossen europäischen Erzähler unserer Zeit. Zahllose Fans in aller Welt haben gehofft, dass er für seinen magischen Realismus skipetarischer Prägung doch noch den Nobelpreis erhalten werde.
Legenden, Mythen, das Wirken des Wunderbaren im Alltag und düstere Vorkommnisse, skurrile Gestalten, harter Realismus, präzise Beobachtungen, das alles hat Kadare in seinen Romanen aufgeboten und auf erzählerisch souveräne Weise miteinander verbunden. Warum wurde ihm, der mit nationalen und internationalen Auszeichnungen hoch dekoriert war, dieser eine Preis vorenthalten – und das Wort ist angemessen angesichts der Vielzahl grandioser Romane, die er verfasste?
Tribut an den Machtapparat
Das hat gewiss damit zu tun, dass er in einem Land lebte, veröffentlichte, gefördert, verehrt, ja zum «Staatsdichter» wurde, in dem bis zur Wende von 1991 das öffentliche wie das private Leben von einem aberwitzigen Totalitarismus reglementiert wurde: von der stalinistischen Herrschaft Enver Hoxhas. Und wer in diesem System als Autor überleben, publizieren, gelesen werden mochte, musste nicht nur kleine Kompromisse eingehen, sondern – aus allzu berechtigter Angst, Berechnung oder Überzeugung – dem Machtapparat manchen Tribut entrichten.
Den einen galt und gilt Kadare daher als Günstling Enver Hoxhas, der übrigens wie er aus Gjirokastra stammte und dessen Geburtshaus in dieser steil gebauten Stadt nur wenige Strassen von dem seinen entfernt stand. Andere würdigten hingegen die künstlerische Kraft des Erzählers und seinen Mut, die Herrschaft der Osmanen in packenden historischen Romanen zu verwerfen, um vor dieser geschichtlichen Kulisse auch dem stalinistischen Regime den literarischen Prozess zu machen.
Und was wäre, wenn beides zuträfe?
Viele seiner erzählenden Werke haben ihr historisches Sujet in jener Epoche, da Albanien eine unterworfene, indes nie völlig befriedete osmanische Provinz war. Die bizarre Bürokratie der Osmanen, die allgegenwärtige Despotie, das ausgedehnte Spitzelwesen, die Rätselhaftigkeit der belohnenden und strafenden Macht – in all dem, was er der osmanischen Herrschaft anlastet, hat Kadare das Wesen der Macht selbst untersucht und bald mehr, bald weniger verschlüsselt, auch den albanischen Stalinismus kritisiert. In der Chronologie seiner Romane zeichnet sich, was seine Haltung zum Regime betrifft, jedoch keine klare Entwicklung ab.
In «Der Palast der Träume» entwirft er einen alles erfassenden Überwachungsstaat, der noch die Träume der Untertanen sammelt. Auch wenn der kafkaesk anmutende Roman in der osmanischen Vorvergangenheit spielt, ist doch unverkennbar die Gegenwart mitgemeint.
Aber dieser verblüffende Roman wird gerahmt von zwei patriotischen Epen, «Der grosse Winter» (1977) und «Konzert am Ende des Winters» (1988); und in diesen zwei Kolossalgemälden verherrlichte Kadare den Beschluss der albanischen Kommunisten, lieber die weltpolitische Isolation zu wählen, als weiterhin von den Bruderparteien der Sowjetunion und Chinas bevormundet zu werden, die beide die Lehre Stalins verraten hätten.
Der Stolz der Albaner
Häufig hat Kadare den Stolz der Albaner verklärt, die Leidensfähigkeit eines kleinen, in seiner Geschichte mehrfach von der Auslöschung bedrohten Volkes, das dem Zwang wie den Verlockungen der Assimilation widerstand und sich seine sprachliche und kulturelle Identität zu bewahren vermochte. Als «rebellischste aller Nationen» rühmte er die Albaner, und in seinem Roman «Der Schandkasten» heisst es einmal: «Der Geist der Rebellion war so umfassend und unveränderlich wie das Klima des Landes.»
Vielleicht hat es doch weniger mit seinen politischen Ansichten als seinem patriotischen Anliegen zu tun, dass er im Bild Enver Hoxhas immer wieder die Züge Skanderbegs, des mythischen Vaters der Nation, durchschimmern liess. Für ihn war der bizarre Führer, der über Abertausende den Tod verhängte, unter ihnen viele Weggefährten der ersten Stunde, offenbar jene einzigartige Persönlichkeit, in deren Herrschaftsjahren Albanien zu der Nation wurde, an deren Existenz keiner mehr zweifeln konnte, und zu einem Staat, dessen Souveränität künftig niemand mehr infrage zu stellen wagte.
Selbstbewusst und selbstkritisch zugleich hat Ismail Kadare, sein weitgespanntes Werk überblickend, einmal gemeint: «Meine besten Romane sind auf dem Höhepunkt der kommunistischen Diktatur entstanden.»
Tatsächlich sind ihm in den sechziger und siebziger Jahren Werke gelungen, die gültig bleiben werden. Mit «Der General der toten Armee», dem Roman einer schauerlichen Expedition ins Reich der Toten, wurde er weltberühmt. Im Original erschien er 1963, da war sein Verfasser gerade erst 27 Jahre alt, auf Französisch 1970, auf Deutsch 1973, und mit Marcello Mastroianni und Michel Piccoli in den Hauptrollen wurde er auch verfilmt.
Jahre nachdem die Italiener im Zweiten Weltkrieg Albanien militärisch besetzt haben, sind ein einstiger General und ein Militärpfarrer in der unwirtlichen Landschaft unterwegs, um die Gebeine der gefallenen italienischen Soldaten aufzuspüren und in die Heimat überzuführen. Als er seine Mission beginnt, ist der General noch im Ehrenkodex seines Standes befangen, doch über das Jahr wird er an seinem Auftrag irre: Der Militär und der Geistliche, unterwegs in Kälte und Dauerregen, finden die Gräber nicht, und wenn sie doch auf welche stossen, liegen darin durcheinander die Knochen verschiedener Namenloser, die bereit sind, in einer geschlagenen Armee der Toten als klappernde Gerippe nach Hause zu marschieren.
In diesem Auftakt zu einem vielgestaltigen Romanwerk ist bereits alles da, was die hohe erzählerische Kunst Kadares ausmacht. Die Grenze zwischen Traum, Albtraum und Wirklichkeit, zwischen Magie und Realität ist aufgehoben, die Toten sind nicht nur in den Geschichten, die man sich von ihnen noch nach Generationen erzählt, stetig präsent, sondern mitunter ziehen sie als Geister und Gespenster durch die Gegenwart. Die Familien leben mit ihren längst abgeschiedenen Vorfahren in einer schrecklichen, unauflöslichen Gemeinschaft zusammen, zwischen verfeindeten Clans schwächt der Hass sich über die Jahrhunderte nicht ab.
Kinderblick auf die Geschichte
Einer der schönsten Romane des Autors ist die bereits 1971 erschienene «Chronik in Stein». Ins Deutsche übersetzt hat ihn Joachim Röhm, in dem Kadare den Glücksfall eines sowohl landeskundigen als auch sprachmächtigen und zudem treuen Übersetzers gefunden hat. Der Roman zeigt auf bezwingende Weise, dass der Autor die Magie nicht etwa der Realität als besondere literarische Methode überstülpt, sondern er das Wunder in der Wirklichkeit selbst auffindet, weil das Magische für ihn zum alltäglichen Leben der Menschen gehört.
Das grausame Geschehen, die wechselnde Besetzung einer Stadt während des Zweiten Weltkriegs, wird konsequent aus der Sicht eines Kindes gesehen und gedeutet. Dieses versteht manche Zusammenhänge der Erwachsenenwelt falsch, erlebt andere dafür intensiver, aus seinen Erlebnissen und Erfahrungen ersteht ein schockierender und ergreifender Roman, und aus der Chronik von Unterdrückung und Gewalt wächst das poetische Zauberbuch einer Kindheit.
Nach dem Kollaps des stalinistischen Systems hat sich Kadare 1992 mit dem kuriosen Rechenschaftsbericht «Albanischer Frühling» zum obersten Dissidenten, zum gefährlichsten Feind Enver Hoxhas zu stilisieren versucht, zu dessen Personenkult er doch manches beigesteuert hat. Der Versuch, seinen in der Ära des Stalinismus entstandenen Büchern nachträglich eine antikommunistische Tendenz aufzupfropfen und bei Neuauflagen fragwürdige Stellen umzuschreiben, mutet peinlich an.
Grandios hingegen sind einige Romane, die der schöpferisch ungebrochene Autor in den letzten drei Jahrzehnten verfasst hat – etwa «Der Nachfolger» von 2006 oder «Die Verbannte» von 2009. Das erste meisterliche Werk nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung, der 1996 erschienene Roman «Spiritus», ist eine Studie über die Macht und den Preis der Unterordnung, abgründig, erschreckend und hochkomisch zugleich.
Eine internationale Forschergruppe bereist das postkommunistische Land, um Geschehnisse aufzuklären, in denen sich der ganze Horror eines sich selbst verschlingenden totalitären Systems äusserte. Die spezifische Despotie Albaniens hat nicht nur viele Opfer dazu genötigt, selbst zu Tätern zu werden, sondern umgekehrt auch das Leben jener versehrt oder gar zerstört, die sich als Nutzniesser des Systems zu behaupten versuchten.
Ausgestattet mit etlichen hohen Funktionen, musste Kadare selbst am Höhepunkt seines Ansehens fürchten, womöglich selbst in die unablässig arbeitende Maschinerie der Verfolgung zu geraten. Auch er wurde bespitzelt, und seine Akte bei der Sigurimi zählt zu den umfangreichsten, die der krakenartige Geheimdienst angelegt hat; auch er musste gelegentlich Selbstkritik üben, und sogar er, der Lieblingsautor des Despoten, wurde 1975 aus Tirana verbannt und für kurze Zeit zur Arbeit aufs Land verschickt.
In «Spiritus» heisst es einmal: «Dauernd stolperten wir über Exkommunisten, auf denen der Kummer wie eine Staubschicht zu liegen schien. Auch die ehemaligen Häftlinge schüttelten ihre ergrauten Köpfe, doch schon nicht mehr zornig. Die meisten schienen zu erschöpft, sogar die Verrückten.»
Warnung vor dem Neoosmanismus
Nach und nach hat Kadare im Alter begonnen, die Unbeugsamkeit der Albaner, die er lange so glaubhaft rühmte, als grimmigen Starrsinn zu deuten, als Weigerung, sich von versteinerten Traditionen zu befreien und den Schritt aus bedrückender Enge zu wagen. Rundum kämpferisch, zuweilen geradezu barsch versuchte er, der seit langem zumeist in Paris lebte, auf die politischen Entwicklungen Albaniens Einfluss zu nehmen.
Einen Kampf, den er bereits in seinen ersten Romanen führte, setzte er bis zuletzt fort. Wie er einst die Herrschaft der Osmanen über die albanischen Stämme und Regionen als rückständig und despotisch verworfen hatte, kritisierte er später heftig, dass die Türkei die osmanische Zwangsherrschaft über den Balkan zur goldenen Ära umzufälschen trachtete.
Leidenschaftlich warnte er davor, dass Recep Tayyip Erdogan über reich dotierte Kultur- und Religionsstiftungen, über Moscheen und eigene Schulen Albanien zur Provinz eines neoosmanischen Reiches zu degradieren plante. Diese imperiale und islamische Politik der Türkei geisselte er als «kulturelle Aggression», und in der biologistischen Sprache, in die er in der Polemik manchmal verfiel, sah er durch sie gar «die DNA des albanischen Volkes» bedroht.
Die Verstrickung dieses bedeutenden Künstlers in den totalitären Machtapparat mögen jene über den Tod hinaus verurteilen, die selbstgerecht den Finger gegen alle richten, die unter ungleich schwierigeren, gefährlicheren Verhältnissen leben mussten – und schreiben wollten. Ismail Kadare war zweifellos ein epochaler Erzähler, der seine verdammte und geliebte Heimat Albanien, die für uns Terra incognita war, der Weltliteratur eingeschrieben hat.
Ismail Kadare ist am 1. Juli im Alter von 88 Jahren in Tirana gestorben.