Die Berner Autorin erzählt in ihrem Roman «Im Meer waren wir nie» von Dingen, die zu Ende gehen. Dabei kommt ihr die eigene Biografie zu Hilfe.
Natürlich beginnt Meral Kureyshi, Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel, mit ihrer Geschichte nicht am Anfang. Denn in der Villa an der Spitze des Bielersees glauben sie nicht an das lineare Leben. Dort ist man überzeugt vom Ineinanderfransen. Zufälligkeiten und Überlappung als Realismusgaranten finden sich in den Romanen vieler Abgänger.
Die Bernerin Kureyshi tritt in dieser Disziplin zur Kür an und beginnt ihre Geschichte weder am Anfang noch irgendwo, sondern mit einem Ende. Mit einem Abschied auch – mit einer Beerdigung also. Ein Roman, der vor dem Krematorium beginnt, könnte durchaus deprimierend sein. Stattdessen ist «Im Meer waren wir nie» oft berührend und wahr und manchmal poetisch.
Mit dem Anfang kommt das Adieu
Erwachsenwerden heisst auch Abschiednehmen. Bis am Ende nur noch die Asche bleibt. Davon erzählt Kureyshi in ihrem dritten Roman, einem Reigen der leisen, ja manchmal stillschweigenden Adieus. Die Zeit kindlicher Sorglosigkeit, jugendlicher Besserwisserei und schliesslich früh-erwachsener Zuversicht ist vorbei. Es sterben die Grosseltern, vergehen Freundschaften und verpuffen Liebesbeziehungen.
Alles, was beginnt, beginnt in genau diesem Augenblick auch aufzuhören. Das kann bei Kureyshi, ganz so, wie im Leben, einmal Drohung, dann wieder Trost sein. «Ein Mensch kann über Nacht zur wichtigsten Person werden. Dann verwandelt sich derselbe Mensch ganz langsam, über Jahre, wieder in einen Fremden zurück.»
Das lässt Kureyshi ihre namenlose Protagonistin denken, die in erster Linie ein «Ich» ist und manchmal ein «Du». Das «Wir» kommt ihr immer mehr abhanden. Weil das «Ich» zu trainieren ein gesellschaftlicher Breitensport geworden ist. Aber auch, weil sich über all die Abschiede, die die Protagonistin erinnert, erlebt oder erahnt, einer spannt, den sie aufschiebt und der vieles verändern wird.
Der Abschied auf Raten
Zum «Wir» der Protagonistin gehören meistens ihre beste Freundin Sophie und deren achtjähriger Sohn Eric. Die Freundinnen haben das Kind, dessen Vater gewalttätig war und nun kein Teil ihres Lebens mehr ist, gemeinsam durchs Gröbste gebracht. Kureyshi nutzt diese eine Beziehung, um mit ihren knappen Sätzen, die sich zu mehr oder weniger langen Momentaufnahmen fügen, mehrere Zersetzungsprozesse offenzulegen.
Da ist einerseits die beinahe lebenslange Freundschaft, so alt, dass sie nicht sterben kann. Vertraut und eingespielt sind die Freundinnen. Das gibt Sicherheit und nimmt manchmal Sauerstoff. Denn mit den Jahren hat sich das immer fester werdende Gefüge ihrer Freundschaft so eng um die Silhouetten der Menschen, die sie einst waren, gelegt, dass eine neue Version, mit neuen Facetten, kaum hineinpasst. Es sei denn, man sprengt alles auf.
Durch Erics Geburt wird das Aufsprengen allerdings ebenso viel unwahrscheinlicher wie schwieriger. Denn sie schnürte aus der Freundschaft auch eine Elternschaft. Ein Vorgang, der den Fokus auf einen neuen, dritten Menschen verschiebt und den Blick an den Rändern, da, wo man neben dem Kind auch einander sähe, unscharf werden lässt.
Wie eine Weiche leitet das Kind die Leben seiner Eltern kollisionsfrei aneinander vorbei. «Meinst du, wir wären noch befreundet, wenn wir Eric nicht hätten?, frage ich. Wir funktionieren nur noch, sagt Sophie, wie ein altes Ehepaar, das keinen Sex mehr hat. Dann lachen wir beide so laut, dass uns alle anstarren.»
Der letzte Abschied
Kureyshis Kosmos belebt aber vor allem Lili, Sophies Grossmutter, die gleich zu Beginn des Romans stirbt. Doch das Umblättern der Seiten holt sie zurück. Lili lebt im Altersheim. Die Protagonistin wird dafür bezahlt, all das zu tun, wofür das Pflegepersonal keine Zeit hat. Mit Lili einzukaufen, ihr zuzuhören, mit ihr eine Rotweinflasche zu teilen, ihr Jammern und die Langsamkeit zu ertragen. Damit erleichtert sie das Leben von Lili und das Gewissen von Lilis Familie.
Nicht mitleidig, aber realistisch und darum schmerzhaft beschreibt Kureyshi Lilis langen Abschied vom Alltag hinein in ein sterbenslangweiliges Einerlei. Ohne Gefühlsduselei zeigt Kureyshi, wie das Alter Gebrechen um Gebrechen mehr Einsamkeit und Langeweile mit sich bringt, weil die Welt der Jungen schneller dreht und der Körper der Alten so vieles verlernt. Das Schlimme sei, sagt eine Altersheimbewohnerin, dass die langsamen Alten in dieser neuen Zeit vergessengehen. «Aber wir vergessen nicht.»
Lili bleiben die Momente, die ihre Familie ihr pflichtbewusst schenkt, die Zeit mit der Protagonistin, die dafür bezahlt wird, und dazu die Erinnerung. Diese «riecht gut und leuchtet in grellen Farben. Niemand kann sie einem nehmen».
Der erste Abschied
Ohne Vorwarnungen wie Kursivschrift oder Kapitelüberschriften springt Kureyshi in der Zeit vor und zurück und noch weiter zurück und dann noch ein bisschen weiter. Ohne sich irgendwo zu verfangen, streift der Roman Lilis Kindheit, ihr Frausein in der längst vergangenen Schweiz und die Erinnerungen der Protagonistin an ihre alte Heimat, die die gleiche ist wie jene der Autorin: das kosovarische Prizren.
Denn auch Migrationsgeschichten sind Abschiedsgeschichten. «Ich lebe zwischen den Sprachen in meinem Kopf. Keine davon begleitet mich ein Leben lang, was zur Folge hatte, dass ich in keiner zu Hause war. Somit beherrsche ich keine, ich weiss auch nicht, ob man eine Sprache beherrschen kann.»
Kureyshi erzählt vom Abschied durch Migration über die Abgrenzung der Protagonistin zu ihrer jüngeren Schwester Nuri. Die Ältere erinnert sich an die alte Heimat, die Jüngere ist bereits ein Kind der neuen. «Ihre Zähne sind gerade gerichtet worden mit einer Spange, als sie zwölf Jahre alt war. Danach sah sie anders aus. Ich trug meine Nachtspange nie.»
Was die beiden Schwestern verbindet, oder doch eher aneinanderbindet, ist nicht der Verlust der Heimat, sondern jener des Vaters. «Seit mein Vater gestorben ist, feiere ich keine Geburtstage mehr. Es ist nicht mehr dasselbe. Und das andere will ich nicht.» Es sind Sätze wie dieser, ebenso präzise wie poetisch, die Kureyshis Sprache ausmachen.
Die modische Autofiktion
2015 schaffte es Meral Kureyshi mit ihrem Debütroman, «Elefanten im Garten», auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises. «Fünf Jahreszeiten» wurde mit dem Preis «Das zweite Buch» der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung ausgezeichnet.
Für ihre Romane bedient Kureyshi sich stets des eigenen Lebens. Auch die Autofiktion ist in Mode am Literaturinstitut in Biel, wo sie ausgebildet wurde. Dass die Migrationserfahrung zum literarischen Nährboden für die Autorin und zum Glücksfall für die Leserschaft werden kann, liegt aber vor allem daran, dass Kureyshi genau weiss, dass sie nichts aufzubauschen braucht – ihr Erzählen hat bereits ein eigenes Gewicht.
Meral Kureyshi: Im Meer waren wir nie. Roman. Limmat-Verlag, Zürich 2025. 216 S., Fr. 31.90.