Der kollektive Brief ist in Zeiten der Krise zum Volkssport geworden. Seine Wirkungskraft tendiert gegen null, Schaden richtet er hauptsächlich beim Absender an.
In Deutschland protestieren die Bauern, und es streiken die Lokomotivführer. Und schon herrscht Alarmstimmung. Dabei könnte es noch viel schlimmer kommen. Denn nun streikt auch die Kultur. Einige international bekannte DJ verzichten unter Protest auf eine Teilnahme an einem Festival für elektronische Musik in Berlin. Sie finden das angeblich in Deutschland herrschende «Klima der Repression» unerträglich.
Sie haben sich einem Boykottaufruf angeschlossen, der vor gut zwei Wochen unter dem Namen «Strike Germany» veröffentlicht worden ist und Künstler wie Kulturarbeiter aus der ganzen Welt dazu auffordert, in Deutschland nicht mehr tätig zu sein. Die anonymen Urheber des Streikaufrufs fordern von den deutschen Behörden den Schutz der – wie sie behaupten – massiv eingeschränkten Meinungsfreiheit. Inzwischen haben bald 1500 Personen und Institutionen die Boykotterklärung unterzeichnet.
Zu ihnen gehört auch der aus Ghana stammende und in Kanada lebende Regisseur Ayo Tsalithaba, der seinen Film «Atmospheric Arrivals» von der Berlinale zurückgezogen hat. Er könne eine Teilnahme nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, sagt er auf X, solange «Deutschland aktiv beteiligt ist an dem Horror in Gaza und zugleich abscheuliche Gewalt an jenen ausübt, die dagegen protestieren».
Diese zur Karikatur verzerrte Darstellung der deutschen Zustände fügt sich nahtlos in das Zerrbild, das der Boykottaufruf entwirft. Darin heisst es unter anderem: «Anstatt sich mit ihrer eigenen rassistischen und zunehmend neofaschistischen Politik auseinanderzusetzen, beeilen sich deutsche Medien und Politiker, die arabische und muslimische Bevölkerung in Deutschland für den sogenannten importierten Antisemitismus verantwortlich zu machen.»
Boykott ohne Folgen
Zu den prominentesten Unterzeichnern des Boykotts gehören die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die amerikanische Philosophin Judith Butler und Catherine David, Kuratorin der Kasseler Documenta von 1997. Sie kennen Deutschland aus eigener Anschauung. Dass sie sich einem Boykott anschliessen, dessen Urheber die deutsche Politik als rassistisch und neofaschistisch denunzieren, zeugt nicht gerade für ihre Kraft der Unterscheidung zwischen politischer Analyse und höherem Nonsens. Gleiches gilt für die Künstler aus der Schweiz und Deutschland, die den Aufruf mitunterzeichnet haben. Auch sie könnten es besser wissen.
Die Folgen des Boykotts werden überschaubar bleiben. Annie Ernaux’ Unterschrift hat jenseits ihres symbolischen Gehalts und des Gewichts der Reputation der Schriftstellerin nichts zu bedeuten. Man könnte auch sagen: Nicht einmal sie selber nimmt ihre Boykottdrohung ernst. Sie wird dem Suhrkamp-Verlag nicht verbieten, ihre Bücher zu verkaufen. Und die deutschen Theater, die in den nächsten Wochen Dramatisierungen ihrer Romane auf die Bühne bringen, müssen ihre Premieren nicht absagen. Weder Einkommen noch Ansehen setzt Annie Ernaux aufs Spiel.
Vermutlich kennt sie noch nicht einmal den genauen Inhalt des Aufrufs. Man kann schliesslich nicht jede Petition und jeden offenen Brief genau lesen, ehe man ihn unterzeichnet. Hauptsache: Man zeigt sich solidarisch mit angeblich Unterdrückten oder besorgt über ein Unrecht. So unterzeichnete Annie Ernaux im März 2023 einen offenen Brief gegen sexualisierte Gewalt der französischen Polizei. Im Mai forderte sie die Freilassung des inhaftierten algerischen Journalisten Ihsane al-Kadi. Im Juni unterschrieb sie einen Aufruf zugunsten der Schauspielerin Amber Heard, und im Oktober warnte sie zusammen mit zahlreichen Künstlern vor den Folgen von KI für das künstlerische Schaffen.
Das alles ist nicht verwerflich. Im Gegenteil, das Engagement nötigt einem Respekt ab. Es hat nichts Ehrenrühriges, wenn man die eigene Reputation als Währung im Meinungskampf oder zur Unterstützung Verfolgter einsetzt. Doch verhält es sich hier wie mit jeder Währung, von der zu viel in Umlauf kommt: Sie entwertet sich selbst.
Erst recht büsst eine solche Unterschrift an Glaubwürdigkeit und damit Gewicht ein, wenn sie unter einen Aufruf wie «Strike Germany» gesetzt wird, der Unfug verbreitet und die Welt nach einem simplen Raster in gut und schlecht teilt. Freund und Feind scheiden sich hier entlang der Konfliktlinie zwischen Israel und der Hamas.
Künstler sind Experten der Nuancen und der Mehrdeutigkeit. Manche allerdings scheinen in ihrem Weltverbesserungsfuror zu vergessen, dass es auch in der Wirklichkeit kein simples Entweder-oder gibt. Die Verhältnisse sind auch hier stets unübersichtlicher, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Die Unterschrift unter ein Pamphlet, das Israel Völkermord vorwirft und Deutschland Komplizenschaft daran, bezeugt indessen vor allem die intellektuelle Kapitulation vor einer Welt, die keineswegs so unterkomplex ist, wie es sich die Schlaumeier des einfachen Denkens gerne wünschten.
Offene Briefe sind Rohrkrepierer
Die vielen Krisen unserer Gegenwart haben den Volkssport des kollektiven Briefeschreibens enorm beflügelt. So hat Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine zwei offene Briefe erhalten. Im einen wurde er aufgefordert, Waffen an die Ukraine zu liefern, und im anderen, gerade dies nicht zu tun. Seither erschliesst sich das Medium der kollektiven öffentlichen Epistel immer neue Felder.
In der letzten Woche haben deutsche Bischöfe dazu aufgerufen, nicht für die AfD zu stimmen. Schweizer Fahrende forderten von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, dass die Aktion «Kinder der Landstrasse» als kultureller Genozid verurteilt werde. Und rund 250 Milliardäre baten in einem Schreiben an die in Davos versammelte politische Elite inständig, man möge sie doch bitte endlich tüchtig besteuern.
Man wird gefahrlos behaupten können, dass die Zahl der offenen Briefe im umgekehrten Verhältnis steht zu deren Wirkungskraft. Sie verpuffen in aller Regel als Rohrkrepierer – ohne Schaden anzurichten. Umso häufiger entfalten sie darum heimtückische Nebenwirkungen bei ihren Absendern. Denn offene Briefe sind eine Art Flaschenpost an die Zukunft: Man weiss nie, wann sie bei wem ankommen. Und waren Unterschriften bis heute meist kostenlos, so hängt neuerdings ein Preisschild dran, wobei der Absender noch nicht weiss, was dereinst ein Empfänger als Preis einfordern wird.
Der in Genf geborene Kurator und Künstler Mohamed Almusibli könnte ein Lied davon singen. Mitte November ist er als neuer Direktor der Basler Kunsthalle vorgestellt werden. Es verging lediglich ein Tag, da flogen ihm gleich zwei offene Briefe um die Ohren, die er einen Monat zuvor unterzeichnet hatte.
Der erste war von Tilda Swinton initiiert worden und verurteilte die westlichen Regierungen dafür, dass sie in Gaza nicht nur Kriegsverbrechen dulden, sondern auch noch Beihilfe dazu leisten würden. Der zweite Brief wurde auf der Plattform «The Arts Community» veröffentlicht und sprach von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einem Genozid in Gaza. In beiden Briefen war vom Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten zunächst mit keinem Wort die Rede.
Die «Basler Zeitung» hatte den Sachverhalt publik gemacht und daran unausgesprochen die Frage geknüpft, ob unter solchen Voraussetzungen Mohamed Almusibli ein geeigneter Direktor der Kunsthalle sei. Es dauerte wiederum keine Woche, bis sich eine grosse Zahl von Kunstschaffenden gleich in zwei offenen Briefen – wie denn sonst? – mit dem designierten Kunsthalle-Direktor solidarisierten.
Was wie eine Farce nach einem zweitklassigen Drehbuch anmutet, ist in Wahrheit das böse Erwachen nach einem intellektuellen Bankrott. Die Frage, ob Mohamed Almusibli Unrecht geschehen sei, kann man getrost beiseite lassen. Seine öffentlich bekundete Reue über die gedankenlos geleisteten Unterschriften lässt jedenfalls vermuten, dass er die Demarchen gegen ihn nicht völlig unberechtigt fand.
Beschädigte Glaubwürdigkeit
Von grösserer Tragweite ist die Selbstentwertung und Selbstabschaffung des öffentlichen Intellektuellen in dem Augenblick, da er sich hinter einem Kollektiv versteckt und einen offenen Brief unterzeichnet. Verstand er sich bis dahin als Individuum, das den eigenständigen Gebrauch der Vernunft zu seinen Vorzügen rechnete, so entmündigt er sich nun und delegiert mit der Unterschrift das Denken an eine womöglich auch noch anonym bleibende Gruppe. An die Stelle des selbstverantwortlichen Argumentierens tritt eine wohlfeile Sympathiebekundung, die dem Absender weder gedanklich noch moralisch eine Anstrengung abverlangt.
Der offene Brief mit seinen apodiktischen Aussagen und einfältigen Weltbildern ist nichts anderes als ein Gesprächsabbruch unter dem Vorwand, das Gespräch zu suchen. Wo der Intellektuelle hinter dem Kollektivkörper in Deckung geht, gibt er das auf, was ihn ausmacht: Er argumentiert nicht mehr, er degradiert sich zum Aktivisten.
Was mit Künstlern geschieht, die sich selbstgefällig dem kollektiven politischen Aktivismus hingeben, konnte man im vorletzten Jahr in Kassel an der Documenta besichtigen. Polit-Kitsch mischte sich da mit krudem Antisemitismus.
Auch Annie Ernaux’ Unterschriftenaktivismus wird Folgen haben, selbst wenn sie damit nichts aufs Spiel zu setzen scheint. Doch ihre Glaubwürdigkeit und ihre intellektuelle Redlichkeit werden Schaden nehmen. Wenn jemand wie sie, deren künstlerische Existenz unabdingbar mit der Authentizität ihrer individuellen Sprache verknüpft ist, andere für sich sprechen lässt, geht etwas zu Bruch. Ein Argwohn wird fortan ihre Bücher und alles, was sie öffentlich sagt, verschatten. Ist sie’s, die spricht? Oder lässt sie einen anderen für sich sprechen, sogar viele andere?