Vor hundert Jahren erschien Thomas Manns Meisterwerk. Darin blickt der Autor zurück auf den Ersten Weltkrieg und enthüllt die Zukunft.
Als Deutschland am 1. August 1914 Russland und zwei Tage später auch Frankreich den Krieg erklärte, fehlte nicht viel, und Thomas Mann wäre an der Seite mancher Dichter und Künstler jubelnd in den Krieg gezogen. Seine Dienstuntauglichkeit bewahrte ihn vor Tod oder Verwundung auf den Schlachtfeldern Flanderns, nicht jedoch vor den Torheiten eines rabiaten Nationalismus. Drei Wochen nach Kriegsbeginn schrieb er seinem Verleger frohlockend und in höchster Erregung: «Das sind ja ungeheuere Zeiten.»
«Diese Friedenswelt, die jetzt mit so erschütterndem Getöse zusammengestürzt ist, – hatten wir alle sie nicht im Grunde satt? War sie nicht faulig geworden vor lauter Komfort? Schwärte und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Civilisation?», schreibt Thomas Mann seinem Verleger. Als «Reinigung, Erhebung, Befreiung» habe er den Kriegsausbruch empfunden. «Es ist wahr, uns Deutschen konnte nichts Grösseres und Glücklicheres geschehen, als dass die Welt sich gegen uns erhob.»
Thomas Mann konnte nicht ahnen, in welch entsetzliches Gemetzel sich nun die Soldaten stürzen würden. Der Kontinent würde am Ende dieses vierjährigen Schlachtens ein anderes Gesicht haben. Doch dieses neue Antlitz würde erst 1933 als Fratze zu seiner eigentlichen Kenntlichkeit kommen. Der Kriegsausbruch 1914 verhiess noch «eine ungeheuere Hoffnung». Thomas Manns brachiale Rhetorik offenbarte dabei seine Nähe zu Nietzsches Herrenmenschen-Attitüde: «Wimmelte [die Welt] nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden?»
Folgenreicher Besuch in Davos
Im Jahr zuvor hatte Thomas Mann eine neue literarische Arbeit begonnen. Sie stand unter dem Arbeitstitel «Davoser Novelle» und sollte ein burleskes Nachspiel werden zu «Tod in Venedig». Inspiriert hatte ihn ein mehrmonatiger Kuraufenthalt seiner Frau Katia in Davos, wo sie sich 1912 wegen eines Lungenkatarrhs behandeln liess. Thomas Mann weilte für drei Wochen bei ihr zu Besuch und gewann dabei Anschauung und anekdotisches Material für das, was sich schliesslich zum Grossroman «Der Zauberberg» auswachsen sollte.
Bei Kriegsbeginn erkannte er augenblicklich, dass die Reinigung und Befreiung, die er sich von der Entscheidung auf dem Schlachtfeld versprach, auch für die geplante Novelle eine Lösung bereithielt: «In die Verkommenheit meines Zauberberges soll der Krieg von 1914 als Lösung hereinbrechen, das stand fest von dem Augenblicke an, wo es los ging.»
An dieser Konzeption sollte sich bis zum Erscheinen des Romans vor hundert Jahren nichts ändern. Die schliesslich auf tausend Seiten angeschwollene Novelle kulminiert im Kriegsausbruch von 1914. Doch der Einbruch der Aussenwelt in die Abschottung des Zauberbergs kommt abrupt, als Donnerschlag, der Kranke wie Scheintote herausreisst aus ihrer habituellen Lethargie.
Auch Hans Castorp, die Hauptfigur im «Zauberberg», war als Besucher für drei Wochen von Hamburg in das Lungensanatorium Berghof nach Davos gekommen. Zum Patienten begabt, wie sich alsbald herausstellt, bleibt er und rührt sich nicht mehr vom Fleck: Biblische sieben Jahre verbringt er im Berghof, zur inneren Taubheit erstarrt und der Todessehnsucht verfallen.
Als simples, unbeschriebenes Gemüt, wie ihn Thomas Mann darstellt, liefert er sich jenen aus, die ihn auf ihre Seite zu ziehen versuchen: dem Todesengel und Fanatiker Naphta mit seinen nihilistischen Ansichten und dessen Gegenspieler Settembrini, dem Anwalt eines melancholischen Humanismus, der schliesslich die Oberhand gewinnt.
Vom Sanatorium in die Schlacht
Der siebente Sommer verändert alles. Die Kriegserklärung wird auch für Castorp ein Erweckungserlebnis, denn sie holt ihn heraus aus seinem Stumpfsinn, sie ist ihm – wie für den anfänglich kriegsbegeisterten Thomas Mann – Befreiung und Reinigung. Er packt seinen Koffer und wird von Settembrini, der zu alt ist, um in den Krieg zu ziehen, mit einem bewegenden Gruss verabschiedet.
Schon auf den nächsten Seiten, den letzten des Romans, sehen wir ihn auf dem Schlachtfeld, mehr stolpernd als stürmend, links und rechts fallen die Kameraden unter schwerem Beschuss, dann entschwindet er dem Blick des Erzählers, ein letztes Lied auf den Lippen, es ist «Der Lindenbaum» aus Schuberts «Winterreise».
Von der Liebe handelt es, von «Freud und Leide». Es ist eine ferne Reminiszenz aus einer anderen Zeit, wie der letzte Vers des Liedes einen Ort in Erinnerung ruft, an dem das geplagte Ich zur Ruhe finden könnte. Zugleich übertönt die Melodie zwar nicht den Schlachtenlärm, aber sie zeichnet an den Horizont des Sterbens einen Schimmer von Hoffnung.
Thomas Mann stand das Bild vor Augen, als er den letzten Satz und die letzten Worte des Romans niederschrieb, in der Form einer Frage: «Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?»
Die Pointe ist doppelsinnig. Der in sieben Jahren einer dumpfen Todessehnsucht verfallene Castorp findet im Angesicht des Todes einen Hoffnungsschimmer. Nicht für sich, aber für das Menschengeschlecht. Das Schlachten wird ein Ende finden, die Liebe vielleicht überdauern. Das Ganze hat freilich einen bösen Haken. Augenscheinlich war das reinigende Stahlgewitter notwendig, um von der Entrücktheit auf dem Zauberberg herabzukommen und im Getümmel der Schlacht geläutert zu werden.
Oder anders gesagt: Nimmt man Castorps Zauberberg als Sinnbild für eine verkommene Gesellschaft, dann wäre nach Ansicht des Erzählers eine Erneuerung im Geiste des Humanismus nur in dem grässlichen Gemetzel möglich gewesen. Es wäre eine deprimierende zeitgeschichtliche Diagnose, weil sie den Krieg fatalistisch als ein notwendiges Übel hinnähme.
Thomas Manns Wandlung
Die Sache ist allerdings, wie stets, um einiges komplizierter. Das hat wiederum mit Thomas Manns Geschichte zu tun. Sieben Jahre verbrachte Hans Castorp auf dem Zauberberg, ebenfalls sieben Jahre, rechnet man die Unterbrechung von 1915 bis 1919 nicht mit, hat Thomas Mann am «Zauberberg» gearbeitet. Es war auch für ihn ein Purgatorium. Seine anfängliche Kriegsbegeisterung schlug bis zum Ende des Krieges in eine «grosse Erschütterung» um, die ihn, wie er 1933 in einem Brief schrieb, dazu zwang, den inneren Kompass seiner «geistigen Grundlagen» neu auszurichten.
Diese Neuausrichtung begann mit einer quälenden und quälend langen Selbstbefragung. Während fast der ganzen Kriegszeit arbeitete Thomas Mann an den «Betrachtungen eines Unpolitischen», in denen er seine Haltung als Künstler zur Politik und im Besonderen zum Krieg darzulegen versuchte – oder vielmehr: überhaupt erst einmal Klarheit darüber zu erlangen bemühte.
Der Grossessay war, wie sich nach Erscheinen erwies, ein langes Rückzugsgefecht von seiner frühen Kriegstrunkenheit und seinen antidemokratischen Positionen. Das Buch war bereits im Zeitpunkt seines Erscheinens unmittelbar nach Kriegsende überholt. Thomas Mann stand längst nicht mehr dort, wo man ihn nach den Darlegungen in den «Betrachtungen» hätte vermuten können.
Es waren diese Begleitumstände, die aus dem «Zauberberg» einen Roman machten, der weit über das hinauszuweisen imstande ist, was ursprünglich von Thomas Manns Konzeption intendiert war. Das Buch erzählt nicht nur die Geschichte eines Moribunden, der als Scheintoter alles Überholte und Abgestumpfte seiner Epoche verkörpert und der mit seinem Verschwinden im Schlachtengetümmel des Ersten Weltkriegs die Heraufkunft einer neuen Zeit verheisst. Der Roman protokolliert in seiner Tiefenstruktur auch Thomas Manns Erweckungserlebnis, für das er die im Sommer 1914 anhebende Völkerschlacht gehalten hatte. Doch gleichermassen ging in das Buch ein, dass diese ganz andere Folgen zeitigte, als er sich in seinem Kriegsrausch ausgemalt hatte.
Im Dienst gegen Hitler
Wenn sich in Hans Castorps Verschwinden zugleich der Vorschein von etwas Neuem manifestierte, ohne dass dem Romanhelden vergönnt gewesen wäre, selber Teil dieses Neuen zu sein, so bereitete Thomas Mann mit seinem Zauberberg-Erlebnis eine folgenreiche Selbsterneuerung vor. Das Nachdenken über den Krieg und seine Rolle als unpolitischer Betrachter sowie die Arbeit am Roman haben Thomas Mann von einem Demokratie-Verächter in einen unerschrockenen Demokraten verwandelt.
Wenn der «Zauberberg» eine Zeit im Blick hatte, dann nicht den moralisch-politischen Zerfall der Jahre vor 1914, sondern viel eher das Jahr seines Erscheinens und die darauffolgenden Zeiten des neuerlichen Zivilisationsbruchs. Davon ahnte weder der Autor etwas, noch nimmt der Roman das Kommende vorweg: Auch an dieser Ahnungslosigkeit in Hinblick auf sein Schicksal erkennt man die Monumentalität dieses Kunstwerks. Wovon es sprach, erschloss sich erst in seiner Zukunft. Was am Horizont des Romanendes aufleuchtet, mochte 1924 wie ein Bild aus der Vergangenheit erscheinen. In Wahrheit, so erwies sich später, zeigte sich darin, was der Welt erst noch bevorstand.
Für Thomas Mann sollte in diesem neuerlichen Krieg eine Rolle vorgesehen sein, die er sich in dem Augenblick, als er Hans Castorp aus dem Blick verlor, nicht vorstellen konnte. Als Wanderprediger stellte er sich in den Dienst zur Verteidigung der Demokratie gegen Hitlers Tyrannei, um Teil jener Erneuerung zu werden, die den Totalitarismus überwand.
Die Aktualität des «Zauberbergs» muss hundert Jahre nach seinem Erscheinen nicht gerettet werden. Als Dokument einer Wandlung seines Autors, der unter dem Ansturm der Weltgeschichte seine unhaltbar gewordenen Überzeugungen verwarf, ist es von unübertroffener Brisanz.