Ralph Ribi / TBM
Die Fasnacht gilt bei vielen als fünfte Jahreszeit und Schweizer Kulturgut. Bekannt sind vor allem der Morgestraich in Basel und der Urknall in Luzern. Doch es gibt noch viele weitere Fasnachtstraditionen. Sieben Bräuche aus sieben Regionen.
Mit dem Schmutzigen Donnerstag beginnt die Fasnacht. Sie drängelt sich in die Wintermonate – sprichwörtlich mit Pauken und Trompeten, denn die Guggenmusik liefert den Sound für die unzähligen Fasnachtsveranstaltungen in den nächsten Tagen.
Ein tagelanger Ausnahmezustand, ein Konfetti-farbener Wirrwarr aus Lärm und Lust, aus betrunkenen und liebestrunkenen Leuten. Für Aussenstehende unbegreiflich, für Feiernde unbegreiflich schön. Es gibt Umzüge durch den Dorfkern oder die Innenstadt, Festzelte mit Schlagermusik, Perücken und Kräuterschnaps.
Auf den ersten Blick ähneln sich diese Veranstaltungen. Doch der Eindruck täuscht. Die Schweizerinnen und Schweizer praktizieren die unterschiedlichsten Fasnachtsbräuche.
An den Umzügen der «Füdini» im Saastal schauen die «Göiggler» zum Rechten
Die bekannteste Fasnachtstradition des Oberwallis sind die Lötschentaler «Tschäggättä», diese mysteriösen Gewaltsfiguren mit ihren Holzmasken und grimmig-grotesken Gesichtern. Doch in der Region hat jedes Tal einen eigenen Fasnachtsbrauch.
Im Saastal stolzieren jedes Jahr die «Göiggler» an drei Umzügen durch die Dörfer. Sie sind anmutige Gestalten mit buntem Rockgewand, Maske und Spitzhut, ausgestattet mit grosser Kuhglocke und edlem Pferdeschwanz.
In der alten Zeit bewachten die wenigen «Göiggler» die «Füdini», die maskierten und verkleideten Teilnehmer des Umzugs. Es war eine Ehre, ein «Göiggler» zu sein, und in Saas-Fee wird bis heute die Geschichte erzählt von dem Vater, der die Geburt seiner Tochter verpasste, weil er als «Göiggler» durch die Strassen ziehen musste oder wollte.
Früher führten die «Göiggler» einen Teppichklopfer mit sich und jagten unverkleidete Einheimische, Kinder und Gäste und malträtierten deren Gesäss. Heute teilen sie mit Pferdeschwänzen liebevolle Hiebe aus.
Ein «Göiggler» hat während des stundenlangen Umzugs zu schweigen, erst bei der Demaskierung am Ende des Umzugs gibt er sich zu erkennen. Doch manch einem wird ob all dem Glühwein schon früher die Zunge locker. (sbr.)
Beim «Carimentran» in Le Noirmont jagen wilde Waldwesen junge Frauen
Sie flössen einem Angst ein, die «Sauvages», zu Deutsch: die Wilden. Beim letzten Vollmond vor den Fasnachtstagen marschieren sie ins Dorf Le Noirmont im Kanton Jura. Sie tragen Tannenzweige, Efeu und Schneckenhäuser – und schwarze Farbe im Gesicht. Der Legende nach verkleiden sie sich, um Frauen mit einer neuen, mutigeren Identität von sich überzeugen zu können.
Wenn eine Frau einen der «Sauvages» erkennt, ruft sie: «Connu!» («Erkannt!»). Der Wilde jagt sie daraufhin. Wenn er sie gefangen hat, schmiert er ihr schwarze Farbe ins Gesicht und wirft sie in den eiskalten Dorfbrunnen.
Fragt sich, wie zeitgemäss der Brauch ist, der jahrhundertealt ist und in verschiedenen Teilen Europas in unterschiedlichen Variationen praktiziert wird. Im Jura ging er eine Zeitlang vergessen. Bis vor bald vierzig Jahren eine Historikerin und ein Maler aus der Schweiz auf das eigentümliche Katz-und-Maus-Spiel stiessen. 1991 wurde der Brauch moderat wiederbelebt.
Heute ist es ein Schauspiel mit klaren Rollen. Die Wilden müssen Mitglied im Fasnachtsverein von Le Noirmont sein, das sind gegenwärtig vierzehn. Die weiblichen «Connues» interpretieren freiwillige Frauen, die nicht mehr in einem eiskalten Brunnen landen, sondern im warmen Wasser. Die Tradition markiert den Beginn des «Carimentran», wie die jurassische Fasnacht genannt wird. (atz.)
In Liestal im Kanton Basel-Landschaft ziehen die Einwohner mit brennenden Besen durch die Stadt
Es hat etwas Mystisches, wenn das «Stedtli» in Liestal einmal im Jahr brennt. Am Sonntagabend nach Aschermittwoch tragen Hunderte Freiwillige auf ihren Schultern brennende Besen durch die engen Gassen der Altstadt. Die überdimensionalen «Chienbäse» werden in tagelanger Arbeit aus Föhrenholz gezimmert – nur um später verbrannt zu werden.
Um 1900 heizten Bäcker ihre Öfen nur mit Föhrenholz, genannt «Chien». Die Geschichte besagt, dass ein Bäcker auf die Idee kam, «Chienbäse» herzustellen, um den Winter endgültig zu vertreiben. Der Gründervater des «Chienbäse» war der «Stutze-Geni», ein Konditormeister. Er machte die Besen nach dem Zweiten Weltkrieg zum Baselbieter Fasnachtsbrauch.
Als wären brennende Besen nicht genug, stehen in Liestal jeweils ganze Wagen in Flammen. Mehrere Ster brennendes Holz werden auf sogenannten Feuerwagen gezogen. Wegen zu grosser Brandgefahr waren diese für einige Jahre verboten. Die Feuerwehr, so viel ist bis heute klar, steht am «Chienbäse»-Umzug allzeit bereit.
Als Zuschauer empfiehlt es sich, in der zweiten Reihe einen Platz zu suchen – trotz eingeschränkter Sicht auf das Spektakel. Die Hitze ist überwältigend. Und Vorsicht vor den springenden Funken. Man sollte eine Jacke anziehen, die Brandlöcher vertragen mag. Und am besten nichts tragen, was in Flammen aufgehen kann. (neo.)
An der Dorffasnacht in den Aargauer Turnhallen verflüchtigt sich das Schamgefühl
Ein rotes Tuch um den Kopf binden, ein Stück Stoff über das Auge legen, ein zerfranstes T-Shirt überziehen – und schon ist man ein Pirat. An der Aargauer Dorffasnacht gilt stets das Motto: Hauptsache, verkleidet. Nach ein paar Bieren, Rum-Colas und Jägermeister-Shots ist es egal, wie man aussieht.
Im Aargau hat die Dorffasnacht Tradition. Bis ins hinterste Kaff werden zwischen Februar und März Turnhallen dekoriert, Festbänke aufgestellt, Konfetti geschmissen. Tagsüber laufen die Fasnachtsvereine und Guggen in Umzügen durch die Gassen und verteilen den Menschen am Strassenrand Süssigkeiten, am Abend treffen sich die Erwachsenen zum Fasnachtsball in der Mehrzweckhalle. Die Veranstaltungen heissen «Schüürball», «Häxebocknacht», «Hornfääger-Ball». Und sie haben meist ein Motto wie «Ab id Wöschchuchi», «Jung, wild und chillig», «Eifach Fasnacht».
Zur Guggenmusik mischen sich an der Dorffasnacht Après-Ski und Ballermann-Musik. Man tanzt zum «Roten Pferd», singt «Komm hol das Lasso raus» und schwing dazu mit der Hand ein imaginäres Lasso in der Luft. Nach und nach zerfällt die Verkleidung, verschmiert die Schminke, verflüchtigt sich das Schamgefühl.
Am Morgen danach findet man überall Konfetti, im Eingang zur eigenen Wohnung, unter dem Kopfkissen, in den Haaren, in der Unterhose. Und dort bleiben sie, bis zur nächsten Fasnacht. (cog.)
Im Bündnerland schleudern Knaben glühende Holzscheiben ins Tal
Sobald es am Abend vor dem ersten Fastensonntag in der Surselva dunkelt, steigen Knaben, junge Männer und ihre Väter auf die Anhöhen über dem Dorf. In den Händen halten sie Fackeln und biegsame Haselruten. Wochen zuvor suchten sie die perfekten Stecken, schnitten, trockneten und schliffen sie. Manch einer macht daraus eine Wissenschaft. Für das «Scheibenschlagen» muss alles perfekt sein.
Zur Ausrüstung gehören mehrere Dutzend Holzscheiben, rund, aus Buchenholz, aufgereiht an Schnüren. Die Holzscheiben werden auf die Ruten gesteckt, im Feuer zum Glühen gebracht. Der Schläger holt aus, die Glut zieht wie ein Peitschenhieb durch die Dunkelheit, die Scheibe fliegt von der Rampe ins Tal. Begleitet von einem Ruf, einer Widmung an ein Mädchen aus dem Dorf:
«Höut un dära sei si (‹hier und jetzt›), dia Schiiba, dia Schiiba ghört dr Anna!»
Zurück im Dorf, besuchen die Scheibenschläger die Mädchen, für die ihre Scheiben bestimmt waren, und werden mit Fasnachtschüechli bewirtet. Der Brauch wird heute noch in den Orten Untervaz, Danis-Tavanasa und Dardin gepflegt. Die ältesten schriftlichen Belege reichen bis ins 11. Jahrhundert zurück. Ein Mindestalter zur Teilnahme gibt es nicht. Mitmachen dürften «diejenigen, die nicht mehr in die Hosen machen», heisst es im Bericht des Projekts «Lebendige Traditionen der Schweiz». Die Rollenteilung zwischen Burschen und Mädchen stehe allerdings nicht zur Diskussion.
Auch Raucherwaren gehören zur Ausrüstung. Väter und Grossväter begleiten die Buben, drücken beide Augen zu, wenn der Junior an einer Zigarette zieht. Denn an diesem Tag darf laut Tradition geraucht werden. (lbs.)
An der Beizenfasnacht im St. Galler Rheintal serviert das Personal leicht bekleidet Getränke
An der Beizenfasnacht in der Ostschweiz dekorieren die Wirte ihre Beizen in eine Art Phantasiewelt, in ein Unterwasser- oder Weltraumland, wo getrunken und geflirtet wird. Hotspot ist die «Rue de Blamage» in Altstätten im St. Galler Rheintal, unter anderem mit dem dekorierten «Kreuz».
«Dekoriert» bedeutet im Volksmund aber vor allem, dass leichtbekleidete Frauen hinter der Bar stehen. Sie kommen aus Österreich oder Osteuropa und reisen eigens für die fünfte Jahreszeit in die Schweiz. Früher waren manche von ihnen fast nackt. Heute schreibt die Stadt Altstätten in einem siebenseitigen Reglement vor, dass die Kostüme «Brüste und Unterleib decken» müssen.
Es gibt Beizenfasnächtler, die derartige Vorschriften dafür verantwortlich machen, dass die Tradition mancherorts ausgestorben ist. Tatsächlich haben viele Ostschweizer Wirte aufgehört, Beizenfasnacht zu feiern. Als Grund nennen sie unter anderem das Coronavirus, den Personalmangel oder das veränderte Ausgehverhalten der jungen Leute.
In der «Rue de Blamage» in Altstätten wird die Beizenfasnacht noch immer zelebriert. Der Ort ist eine Zeitkapsel. Es ist einem, als sei man noch in den neunziger Jahren. (atz.)
In Ascona verteilen Köche Tausende von Risotto-Portionen gratis
Wenn in Ascona «Carnevale» ist, wie die Fasnacht im Tessin heisst, versammeln sich Dutzende Profi- oder Hobby-Köche mit Schürze und Kochmütze am Lago Maggiore. In riesigen Kupfertöpfen kochen sie Risotto und würzige Luganighe-Würste. Die mehrere tausend Portionen verteilen sie gratis an die Bevölkerung, während im Hintergrund Guggenmusik läuft.
Das gemeinsame Kochen an Fasnacht ist jahrhundertealt und sozial motiviert. Noch bis ins 20. Jahrhundert war Reis so teuer, dass er vor allem der Oberschicht vorbehalten war. Es heisst, die Reichen sollen irgendwann von den Armen genötigt worden sein, ihnen wenigstens einmal Reis zu servieren.
Für das Risotto-Essen in Ascona kommen die Gemeinde und Spenderinnen und Spender auf. Veranstaltet wird es von der Organisation mit dem schönen Namen «Pro Risotto». Das Brauchtum wird im ganzen Tessin praktiziert, wobei es lokale Unterschiede gibt. Zum einen ist das Essen nicht überall kostenlos, zum anderen werden mancherorts zum Beispiel Makkaroni statt Risotto zubereitet. (atz.)