Nur fünf Monate nach seiner Schulteroperation gewinnt Simon Ehammer Siebenkampf-Gold in der Halle. Doch nun muss er ein paar Schritte zurück: Im Speerwurf beginnt der Aufbau von ganz vorne.
Es kommt selten vor, dass Simon Ehammer die abschliessende Disziplin eines Mehrkampfes als Highlight bezeichnet. Ein Graus sind für ihn die 1000 Meter in der Halle oder, noch schlimmer, die 1500 Meter in der Freiluftsaison. Und genau deswegen hebt der Appenzeller die 2:46,03 Minuten nach seinem Hallen-Weltmeistertitel im Siebenkampf von Glasgow hervor. Weil er den Kilometer ganz ansehnlich gelaufen sei «und nicht wie ein sterbender Schwan wie auch schon». Zweimal hatte er Gold an Titelkämpfen im letzten Rennen noch vergeben.
Für die Schweiz ist es das vierte Hallen-WM-Gold nach Werner Günthör (Kugelstossen, 1991), Julie Baumann (60 m Hürden, 1993) und Mujinga Kambundji (60 m, 2022).
Es ist aber auch Ehammers erster internationaler Titel bei der Elite, nachdem er in seinem Superjahr 2022 bereits WM-Bronze im Weitsprung, EM-Silber im Zehnkampf und Hallen-WM-Silber im Siebenkampf errungen hatte. Die Goldmedaille bedeutet für den 24-Jährigen einen Traumstart ins Olympiajahr, der ihm einen grossen Schub Selbstvertrauen verleiht.
Das Vorjahr war ein Auf und Ab der Gefühle gewesen. Ungültige Versuche im Weitsprung brachten ihn um zwei mögliche Medaillen, dafür brillierte er zum Abschluss mit dem Weitsprung-Disziplinensieg in der Diamond League.
Ehammer war ungeduldig – der Trainer musste ihn zurückbinden
Der Entscheid, gegen Ende der Saison auf den Weitsprung zu setzen, hatte medizinische Gründe. Ehammer litt schon länger unter einer hartnäckigen Entzündung der Bizepssehne; im Verlauf der vergangenen Saison musste er einsehen, dass er das Problem alternativ nicht würde lösen können. Bei einem Eingriff Ende September löste der Chirurg die Bizepssehne im Gelenk ab und fixierte sie ausserhalb des Gelenks wieder.
An der Funktionalität der Schulter ändert dies nichts, und Ehammer war von Beginn weg schmerzfrei. Dennoch dauerte es fast zwei Monate, bis der Athlet schon nur wieder joggen durfte; eine Erschütterung des Gelenks musste er zuvor vermeiden. Also trainierte er in Form von schnellem Wandern oder auf dem Indoor-Velo – möglichst abwechslungsreich, «um ihn bei Laune zu halten», wie René Wyler sagt, der Hauptverantwortliche seines Trainerteams. «Es ist hart, wenn ein Rennpferd nicht aus dem Stall darf.»
Der riesige Ehrgeiz kommt Ehammer in einer solchen Phase nicht entgegen, und dass die Schulter wunschgemäss heilte, ist zwar positiv, machte die Situation für das Team aber nicht einfacher. Gerade weil Ehammer keine Schmerzen hatte, wollte er schneller vorwärtsmachen. Es habe viele Gespräche gebraucht, sagt Wyler, «ich musste ihn zurückbinden und auch mich selber».
In seinem Training setzt das Team gewöhnlich auf Schnelligkeit und Explosivität, weil diese für fast alle Zehnkampf-Disziplinen wichtig sind. Um das neuronale System in den Wochen nach der Operation dennoch zu trainieren, bauten sie kleine Übungen ein, die die Schulter nicht beeinträchtigten: Ehammer sass etwa auf einem Stuhl und musste mit den Füssen abwechslungsweise so schnell wie möglich auf den Boden tappen.
Trotz den Wochen mit eingeschränktem Training verbesserte Ehammer an der WM in Glasgow den eigenen Schweizer Rekord. Wäre ihm nicht der Hochsprung misslungen, hätte er wohl den Europarekord gebrochen, den der Franzose Kevin Mayer mit 6479 Punkten hält.
Das zeigt, dass das WM-Gold durchaus einen grossen Wert hat, auch wenn die fünf Besten des Zehnkampf-Jahres 2023 in Glasgow fehlten. Das ist keine Seltenheit, viele Top-Athleten lassen die Hallensaison aus und richten den Aufbau ganz auf die Olympischen Spiele aus. In der ewigen Bestenliste des Hallen-Mehrkampfs belegt Ehammer mit seinen 6418 Punkten nun Rang 9; fünf der Athleten vor ihm hielten im Zehnkampf schon einmal den Weltrekord.
In solche Bereiche möchte Ehammer dereinst auch vorstossen. Der selbsternannte «Schnori» hatte noch nie Probleme damit, grosse Ziele zu formulieren: etwa mehr als 9000 Punkte zu erreichen, was erst vier Zehnkämpfern gelungen ist. Oder in seiner stärksten Einzeldisziplin Weitsprung als erster Mensch über neun Meter zu springen (seine PB derzeit: 8,45).
Im Speerwurf liegt er weit zurück
Doch in der bevorstehenden Freiluftsaison geht es trotz Traumstart erst einmal darum, wieder überall kompetitiv zu werden. Denn Ehammers schwächste Disziplin Speerwurf wird dort im Vergleich zur Hallensaison wieder gefordert sein. Eigentlich hatte er die Disziplin in der Saison 2023 forcieren wollen – daraus aber wurde wegen der Bizepsprobleme nichts. «Wir liegen dort sehr weit zurück», sagt Wyler. Seit der Operation hat Ehammer noch nicht einmal einen Ball geworfen.
Bis jetzt wurde die Schulter in der Physiotherapie auf das Training vorbereitet. So soll sie wieder den vollen Bewegungsumfang erreichen, das Gewebe muss sich an Belastungen gewöhnen. Ende März reist Ehammer für ein mehrwöchiges Trainingslager nach Barcelona. Das Ziel: dann wieder voll werfen zu können. Es soll zunächst einmal nicht um Weiten gehen, sondern um möglichst viele Würfe.
Während der langen Wurfpause hat Ehammer versucht, sich der Sorgendisziplin durch mentale Techniken anzunähern: etwa durch das Visualisieren des optimalen Bewegungsablaufs. Spasseshalber sagt das Team, es habe Ehammers Festplatte gelöscht, das könne im Speerwurf gar eine Chance sein. In Wirklichkeit verlernt man Bewegungsmuster leider nicht so schnell.
Im Juni steht die EM in Rom an, im August finden die Olympischen Spiele in Paris statt. «Hier gehöre ich hin», sagte Ehammer in Glasgow nach der Goldmedaille und meinte damit trotz allen Erfolgen im Weitsprung den Mehrkampf. Im Zehnkampf anzutreten, ergibt aber nur Sinn, wenn er auch im Speerwurf kompetitiv ist. Hat jemand Herausforderung gesagt? Ehammer ist dabei.