Sie stammt aus einer illustren Familie. Doch sie scheiterte mit dem Versuch, im bürgerlichen Leben anzukommen. Dann ging sie durch die Hölle.
Nach der Trennung von Mann und Kind hat sie sich ein neues Leben aufgebaut, indem sie das alte in Trümmer schlug. Vor allem aber: Sie hat sich selber umgebaut, verwandelt, neu erschaffen. Die Haare sind kurz geschoren, und seit sie täglich schwimmt, sind Rücken und Arme muskulöser geworden. Auf den linken Arm hat sie sich den Ausschnitt eines Gemäldes von Caravaggio tätowieren lassen. Auf dem Bauch ist ein zweites Tattoo. Es liest sich als Selbstbezichtigung und Beschimpfung in einem: «Hurensohn» heisst es da. Wer ihr erst einmal so nahe kommt, kann es buchstabieren und muss dann selber entscheiden, wem das Wort gelten soll.
«Love Me Tender» heisst das erste ins Deutsche übersetzte Buch der französischen Schriftstellerin Constance Debré. Man kann den Titel als Ausdruck einer Sehnsucht nach zärtlicher Liebe verstehen. Eher jedoch klingt er nach rabiatem Sarkasmus. Denn «Love Me Tender» ist das Mittelstück einer autobiografischen Trilogie, die gerade davon erzählt, wie eine Mittvierzigerin ihr Familienleben in Stücke haut.
Damit erteilt sie der bürgerlichen Existenz eine rabiate Absage, zugleich entzieht sie sich den vorherrschenden Konventionen von Sexualität und Liebe. Sie bekennt sich nicht nur zu ihrer Homosexualität, sie übt auch eine extreme Form der Promiskuität aus, in der Sex alles und Liebe nichts bedeutet. Sie nummeriert die Frauen oder typisiert sie: die Schlanke, die Junge, manchmal einfach auch nur: die Nächste. Zärtlichkeiten werden hier zu Übungen der Wut.
Die Erzählerin – wir dürfen sie mit der Autorin in eins setzen – macht sich mit ihrem Rückzug aus dem geordneten Leben zum Hurensohn, zur Ausgestossenen; und sie macht zu Hurensöhnen, wer sich mit ihr einlässt. Das ist mehr als nur eine Metapher: Drei Jahre ist das Ehepaar getrennt, das Kind verbringt abwechselnd eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter. Das Modell funktioniert, bis die Frau ihrem Mann eines Tages sagt, sie sei «auf Frauen umgestiegen». Sie hat überdies ihre Anwaltskanzlei verlassen, sie arbeitet nicht mehr als Strafverteidigerin am Gericht, vielmehr schreibt sie ein Buch. Es wird von dem gewaltsamen Bruch in und mit ihrem Leben handeln.
Heroinsüchtige Eltern
Dabei muss man wissen, dass Constance Debré gleichsam aus der mondänen Mitte des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Frankreich stammt. Das hebt sie in ihrem Buch zwar nicht besonders hervor, aber sie verheimlicht es auch nicht. Im Übrigen verhilft allein ihr Name in Frankreich zu beträchtlichem Nimbus.
Ihr Grossvater Michel Debré stand unter Charles de Gaulle von 1959 bis 1962 als Ministerpräsident der Regierung vor. Ihr 2020 verstorbener Vater François brachte es als Starreporter mit zahlreichen Auszeichnungen zu Ruhm und wurde in den neunziger Jahren in einen Parteispendenskandal um Jacques Chirac verwickelt. Ein Gericht verurteilte ihn 2011 zu einer bedingten Haftstrafe. Die Verteidigung in diesem Strafprozess hatte seine eigene Tochter übernommen.
Constance Debrés Mutter wiederum war das Fotomodell Maylis Ybarnegaray, deren Vater der baskische Politiker Jean Ybarnegaray war. Dieser hatte 1940 kurzzeitig dem Vichy-Regime unter Maréchal Pétain gedient, ehe er sich der Résistance anschloss. Nach dem Krieg wurden ihm die bürgerlichen Rechte aberkannt, was allerdings angesichts seiner Tätigkeit für die Résistance in eine bedingte Strafe umgewandelt wurde.
Beide Eltern von Constance Debré waren heroinabhängig. Die Mutter starb 1988 an der Heroinsucht, als Constance 16-jährig war. Der Vater seinerseits schrieb Ende der neunziger Jahre den autobiografischen Roman «Trente ans avec sursis» (Dreissig Jahre auf Bewährung), in dem er von seiner jahrzehntelangen Opium- und Heroinabhängigkeit und dem Tod seiner Frau erzählt.
Das trägt nichts bei zum Verständnis von Constance Debrés Roman, aber es leuchtet den gesellschaftlichen Hintergrund aus, vor dem die Autorin bzw. die Heldin ihres Romans den Totalabsturz riskiert. Denn im Augenblick, da sie die Scheidung nach dreijähriger einvernehmlicher Trennung einreicht, bricht die ganze Härte des Justizapparats über sie herein. Ihr Mann setzt alle Hebel in Bewegung, um ihr das Sorgerecht zu entziehen. Vor Gericht bezichtigt er sie des Inzests mit dem Kind sowie kinderpornografischer Vergehen, die sie zusammen mit ihren homosexuellen Freunden und Freundinnen begangen haben soll.
Der Vorwurf genügt für einstweilige Verfügungen, die das Besuchsrecht massiv einschränken. Nach Monaten erst gelingt es der Mutter, wenigstens unter Aufsicht wöchentlich eine Stunde ihr Kind zu sehen. Auf die Dauer aber ist sie der Willkür ihres Ex-Mannes schutzlos ausgeliefert, keine Polizei, kein Gericht, keine Anwälte können ihr helfen. Man rät ihr sogar davon ab, die Kinderschutzbehörde einzuschalten, weil dann erst recht Gefahr für das Kind droht durch lange, unabsehbare Prozeduren.
Am Nullpunkt des Daseins
Der Prolog zum Roman endet mit einem Fazit, das alles Kommende vorwegnimmt: «Abgesehen davon, dass ich meinen Sohn nicht mehr sehe, läuft alles gut, mein Sohn ist acht, dann neun, dann zehn, dann elf, er heisst Paul, er ist grossartig.» Schnörkellos und im Stakkato kurzer Sätze erzählt Constance Debré diese Geschichte, die im Grunde nur nebenbei vom Verlust eines Kindes erzählt.
Im Wesentlichen handelt «Love Me Tender» von dem Versuch, das eigene Leben und die eigene Person gründlich zu demontieren, ohne Plan, aber auch ohne Rettungsleine. Sie hat das Schicksal der eigenen Mutter vor Augen – die Autorin ist 2020, als das Buch in Frankreich erscheint, so alt wie die Mutter, als sie starb. Sie weiss, dass sie auf ihrem Weg untergehen kann. Niemand würde sie retten.
Sie kann nicht aus ihrer Haut, also wird diese mit Tattoos überschrieben. Es ist ihre Methode, die Autonomie über ihr Äusseres zurückzugewinnen. Sie verliert ihren Sohn, also verzichtet sie auf alles, was entbehrlich ist. Sie hat kein Geld und bald auch keine Wohnung mehr. Ihre Habseligkeiten passen in eine Tasche, sie schläft bei Bekannten, Sex holt sie sich, wo sie kann, gelegentlich stiehlt sie. Als sie nichts mehr hat, setzt sie sich wieder zusammen, neu und anders.
Constance Debrés Roman über eine Verlusterfahrung ist ein paradoxer Selbstermächtigungstext. Er beschreibt eine geradezu mystische Erfahrung. Das Leben beginnt, wenn es am toten Punkt des Nichts ankommt. Vielleicht hat Constance Debré ihr Leben wie ihr Vater als Bewährungsstrafe angesehen. Anders als ihr Vater hat sie nicht nur darüber geschrieben. Sie hat, wie ihre Romanheldin, den Nullpunkt des Daseins durchschritten.
Constance Debré: Love Me Tender. Roman. Aus dem Französischen von Max Henninger. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 152 S., Fr. 29.90.