Vor dem Ende der indischen Parlamentswahl Anfang Juni verschärft die Regierungspartei den Ton gegen die muslimische Minderheit. Offenbar hat sie Zweifel, dass ihre bisherige Bilanz ausreicht, die Wähler zu überzeugen.
Um seine Wiederwahl muss sich Narendra Modi eigentlich keine Sorge machen. Dem indischen Premierminister ist eine dritte Amtszeit nahezu sicher. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass seine Bharatiya Janata Party (BJP) erneut eine komfortable Mehrheit im Parlament erreichen wird. Trotzdem wirkt der BJP-Chef zunehmend nervös, je weiter die siebenwöchige Parlamentswahl voranschreitet. Statt einfach die Erfolge seiner Regierung herauszustellen, setzt Modi im Wahlkampf vermehrt auf Stimmungsmache gegen die muslimische Minderheit.
Bei einer Kundgebung bezeichnete Modi die 200 Millionen Muslime als «Infiltratoren», die «viele Kinder haben». Der oppositionellen Kongresspartei warf er vor, die Ersparnisse der Hindus an die Muslime verteilen zu wollen. Auch bezichtigte er sie, die Interessen von Indiens Erzfeind Pakistan zu vertreten. Ein BJP-Wahlkampfspot, welcher der Kongresspartei eine Bevorzugung der Muslime unterstellte, wurde nach einer Beschwerde von der Wahlkommission abgesetzt.
Der Fokus auf die Muslime überrascht. Zwar betreibt die BJP bereits seit Jahrzehnten mit der Stimmungsmache gegen Minderheiten Politik und nutzt religiöse Themen zur Mobilisierung ihrer hinduistischen Wählerschaft. Es war aber erwartet worden, dass Modi in diesem Wahlkampf eher den Ausbau der Infrastruktur oder Indiens erfolgreiche Mondmission in den Vordergrund stellen und mit Indiens neuem Prestige als aufstrebende Wirtschaftsmacht werben würde.
Modi hat bei der Wahl das Ziel sehr hoch gesetzt
Als Gastgeber des G-20-Gipfels im September hatte sich Modi voller Selbstbewusstsein gezeigt und sich von westlichen Staatsführern als Gegengewicht zu China umwerben lassen. Bei Wirtschaftsforen verweist die Regierung stolz auf die hohen Wachstumsraten. Vor den Wahlen gab Modi als Ziel für seine BJP aus, von derzeit 303 auf 370 Sitze zu wachsen. Mit seinen Koalitionspartnern will er gar mehr als 400 der 543 Sitze erobern. Damit hätte Modi eine Supermehrheit im Unterhaus, die ihm erlauben würde, die Verfassung zu ändern.
Allerdings hat er damit das Ziel sehr hoch gesetzt. Bleibt seine Partei dahinter zurück, könnte die Opposition ihm dies als Schwäche auslegen. Bei den ersten Etappen der Wahl, die wegen der Grösse des Landes von Mitte April bis Anfang Juni in sechs Phasen stattfindet, fiel die Wahlbeteiligung relativ niedrig aus. Dies nährt in der BJP die Sorge, dass ihre Wähler zu Hause bleiben. Da ihr der Sieg ohnehin sicher scheint, könnten viele Anhänger auf die Stimmabgabe verzichten.
Zwar fällt es auch der Opposition schwer, die Wähler zu begeistern. Mit ihrem Fokus auf Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit hat sie aber einen gewissen Nerv getroffen. Denn die breite Bevölkerung hat kaum vom Wachstum der Wirtschaft profitiert. Während einige Magnaten extrem reich geworden sind, hat sich die finanzielle Lage der meisten Inderinnen und Inder kaum verändert. Gerade Uni-Absolventen fällt es schwer, eine angemessene Stelle zu finden.
Leise Zweifel an Modis Narrativ vom Aufstieg Indiens
Wie jeder Regierungschef muss Modi nach zwei Amtszeiten Ergebnisse liefern. Das Ausland mag sich von Modis Rhetorik vom Aufstieg Indiens mitreissen lassen, doch viele Inder wissen, dass die Bilanz durchmischter ausfällt als von der Regierung behauptet. In Indien gibt es schon lange Kritik, Modi biete viel Show, aber wenig Substanz. Auch manchen BJP-Wähler, dessen Einkommen nach zehn Jahren BJP-Regierung stagniert, dürften leise Zweifel an Modis Narrativ beschleichen.
Nun wird dies Modis Wahlsieg nicht gefährden. Seine Basis ist breit und solide, viele Wähler verehren Modi wie einen Halbgott. Umso unverständlicher ist es, dass der BJP-Chef es für notwendig hält, auf die alte Taktik der Hetze gegen Muslime zurückzufallen. Modi hat das Ziel ausgegeben, Indien bis zum hundertsten Jubiläum der Unabhängigkeit 2047 zu einem entwickelten Land zu machen. Auf dieses Ziel sollte sich die Regierung konzentrieren, statt gegen Minderheiten zu hetzen. Religiöse Polarisierung wird Indien nicht voranbringen.