Antisemitismus sei keine Meinung, sondern ein Affekt, sagte Theodor W. Adorno 1962 in einem Vortrag. Mit Argumenten lasse er sich deshalb nicht bekämpfen. Sondern nur mit Autorität oder Gewalt.
Vergangenes Wochenende wurde ein Student der Freien Universität in Berlin krankenhausreif geschlagen. Ein jüdischer Student. Der mutmassliche Täter war ein Kommilitone. Im Dezember soll er an einer propalästinensischen Hörsaalbesetzung beteiligt gewesen sein. Der Zentralrat der Juden in Deutschland verlangte, dass der Tatverdächtige exmatrikuliert werde. Die Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra erteilte der Forderung eine Absage.
Das ist vertretbar. Die Begründung, mit der sie es tat, ist es nicht. Man dürfe Hochschulen nicht zu «gated communities» machen, sagte sie. Universitäten seien «offene Räume der Kommunikation, der Debatte». Natürlich müssten Konflikte «eingedämmt» werden, setzte sie hinzu und sprach sich für ein Hausverbot für den mutmasslichen Täter aus.
Den Fauxpas machte sie damit nicht ungeschehen. Und vielleicht zeigt der Vorfall, wie schwer der Antisemitismus manchmal zu fassen ist. Schwerer als vor rund sechzig Jahren, als Theodor W. Adorno einen Vortrag über Antisemitismus hielt. Im November 1962 sprach der Philosoph auf Einladung einer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit über die «Bekämpfung des Antisemitismus heute». Sein Publikum bestand aus Pädagogen, die wissen wollten, welchen Beitrag die Schule leisten könnte.
Das Gerücht über die Juden
Das Referat, das in einer Neuausgabe mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma vorliegt, dürfte die Lehrerinnen und Lehrer enttäuscht haben. Adorno sagt es nicht eindeutig, aber er lässt die Vermutung durchblicken, dass er die Möglichkeiten der Schule, auf die Kinder einzuwirken, für sehr beschränkt hält. Und vor allem: dass es zum Zeitpunkt des Schuleintritts zu spät sei. Vorurteile gegenüber Juden, davon ist Adorno überzeugt, werden von den Eltern übernommen. Unbewusst, im Kindesalter. Oder, im höheren Alter, bewusst, als Mechanismus der Schuldabwehr.
Adorno spricht von einem «sekundären Antisemitismus»: Die Elterngeneration versucht ihre nationalsozialistische Vergangenheit zu rechtfertigen, indem sie sich damit entschuldigt, einiges von dem, was man über Juden sage, sei eben doch nicht aus der Luft gegriffen. Die Kinder nehmen diese Vorurteile bereitwillig auf, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sich die Eltern von einem haltlosen und am Ende mörderischen Ressentiment verführen liessen.
Antisemitismus, das macht Adorno klar, fusst nicht auf Erfahrungen und Tatsachen, sondern auf dem Hörensagen. Dem, was niemand wirklich weiss und keiner je gesehen hat, was man sich aber weitererzählt. Deshalb ist das «Gerücht über die Juden», wie er es nennt, so schwer zu bekämpfen. Wer sich auf die Argumente von Antisemiten einlasse, so Adorno, habe bereits verloren. Weil Antisemitismus keine Meinung sei, die rational begründet werden könnte, sondern ein Affekt, gegen den man mit Argumenten nicht ankomme.
Autorität und Macht
Was tun also? Adornos Antwort ist klar: Antisemitismus muss man nicht widerlegen, sondern bekämpfen. Mit der Autorität und notfalls mit der Gewalt, die der Staat hat. Er illustriert das an einem persönlichen Erlebnis: Er ging auf der Strasse an einer Gruppe von Chauffeuren vorbei und hörte, dass sie über die Juden schimpften. Ohne zu zögern, rief er einen Polizisten und liess sie verhaften. Auf der Wache sprach er lange mit den Männern. Einer sagte ihm: «Ach, wissen Sie, gestern waren wir Nazi, heute sind wir Ami, und morgen sind wir Kommi.»
Antisemitismus aus Anpassung also, als identitätsstiftendes Merkmal. Er habe den Eindruck gehabt, sagt Adorno, die Chauffeure hätten die Polizeiwache «ein wenig anderen Sinnes» verlassen. Eine Zuversicht, die im Gegensatz steht zur Ratlosigkeit, die aus weiten Teilen des Textes spricht. Ab den späten 1950er Jahren war der Antisemitismus in Deutschland wieder gegenwärtig. Synagogen und Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus wurden mit Farbe beschmiert, jüdische Friedhöfe geschändet. Ein Patentrezept dagegen hatte Adorno nicht. Aber er stellte kluge Fragen und analysierte scharf, so dass man den Text auch nach über sechzig Jahren noch mit Gewinn liest.
Die Tatsachen benennen
Seit dem Angriff der Hamas vom vergangenen Herbst sind antisemitische Vorfälle in Deutschland wieder an der Tagesordnung. Vermehrt gehen sie von islamistischen Tätern aus oder von linken Aktivisten, in deren identitätspolitischem Denken der Antisemitismus tief verankert ist. Von den politisch Verantwortlichen wird dies allerdings kaum gesagt. Gewalt gegen Juden gilt als Problem der Rechten.
Das verzerrt das Bild und macht den Antisemitismus schwerer fassbar. Adorno warnt eindringlich vor dem «Krypto-Antisemitismus». Äusserungen oder Verhaltensweisen also, von denen man nicht klar sagen könnte, sie seien antisemitisch, die aber den Antisemitismus nähren. Indem sie Gerüchte bedienen. Oder Tatsachen nicht klar benennen. So, wie das dauernd geschieht, nicht erst seit dem 7. Oktober.
Die Hintergründe des Angriffs auf den Berliner Studenten sind noch nicht geklärt. Aber was wäre, wenn der Mann nicht Jude, sondern Muslim gewesen wäre? Hätte die Wissenschaftssenatorin dann auch über Kommunikation und Wissenschaftsfreiheit schwadroniert? Kaum. Da wäre von «Islamophobie» die Rede gewesen und von der Pflicht der Gesellschaft, sich dem Hass gegen Muslime entgegenzustellen. Bei einem jüdischen Opfer sieht die Sache offenbar anders aus. «Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zur Aufklärung zweideutig sich verhält», heisst es an einer Stelle in Adornos Vortrag. Dem ist nichts beizufügen.
Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 86 S., Fr. 15.90.