Mehr als drei Jahre wurde verhandelt, fast wäre er gescheitert. Ein wichtiger Paragraf soll erst in künftigen Verhandlungen geklärt werden. In mehreren Punkten haben sich die Industrieländer durchgesetzt.
Die Corona-Pandemie kostete Millionen Menschen das Leben und verursachte monatelang Chaos. Nationale Gesundheitssysteme gerieten mehrfach an ihre Grenzen. Das alles wollen viele Länder künftig vermeiden. Am Dienstag haben die Mitgliedsländer der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf einen Pandemievertrag als ein Instrument für Vorsorge und Krisenmanagement verabschiedet. Welche Bestimmungen enthält er – und sind teilnehmende Länder künftig besser gerüstet für die nächste Pandemie?
Seit Dezember 2021 hat ein zwischenstaatliches Gremium über den Text verhandelt. Die ursprünglich für Mai 2024 geplante Verabschiedung scheiterte an Finanzierungsfragen und den stark auseinanderklaffenden Interessen und Wünschen der reicheren beziehungsweise der ärmeren Ländern.
Entschädigungen für ärmere Länder bleiben unklar
Tatsächlich ist dieser Konflikt nach wie vor nicht vollständig gelöst. Ein wichtiger Bestandteil des Vertrags bleibt weiterhin offen: die Forderung der ärmeren Länder, dafür entschädigt zu werden, wenn sie der Weltgemeinschaft Informationen über einen Erreger überlassen. Ihre Argumentation: Wenn basierend auf Informationen zum Beispiel über das Erbgut eines Erregers von Firmen oder Universitäten in reicheren Ländern Impfstoffe oder Medikamente entwickelt werden, dann wollen sie an den Erlösen beteiligt werden und auch Produkte erhalten.
Diese Forderungen sind auch ein Resultat der Corona-Pandemie und der damaligen ungleichen Verteilung von Tests, Medikamenten und Impfstoffen. Diese Produkte wurden, vor allem zu Beginn der Pandemie, in den USA und Europa entwickelt. Aber dafür nötige Informationen über die jeweils zirkulierenden Virenvarianten stammten aus Schwellenländern wie China, Indien oder Südafrika.
Der Vorschlag gemäss Pandemievertrag lautet nun: Pharmafirmen können Verträge mit der WHO abschliessen. Darin verpflichten sie sich, für den schnellen Zugang zu Informationen 10 Prozent der von ihnen produzierten Pandemie-Produkte der WHO zur Verteilung gratis zur Verfügung zu stellen. Weitere 10 Prozent sollen sie kostengünstig abgeben.
Allerdings soll der ganze Paragraf, der die Modalitäten in puncto Informationszugang oder Einzelheiten der Verträge definiert, erst in den kommenden ein bis zwei Jahren ausgehandelt und geklärt werden. Erst dann wird der Vertrag den Ländern zur Unterschrift vorgelegt. Nur diese Ausklammerung hat es ermöglicht, dass nun der Vertrag als solches verabschiedet werden konnte. Damit wurde ein grosser Brocken nicht aus dem Weg geräumt und auch nicht kleiner. Die Karawane schiebt ihn weiter vor sich her.
Wo das Bürokratiemonster lauert
Frühere Textfassungen weckten bei vielen Beobachtern die Befürchtung, der Vertrag schaffe ein gewaltiges Bürokratiemonster mit der WHO als Spinne im Netz. Dieses Szenario wurde nun teilweise entschärft.
So wird zum Beispiel nicht mehr vorgeschrieben, wo und von wem Informationen über Erreger gesammelt und aufbereitet werden. Ursprünglich sollte das eine von der WHO zertifizierte und überwachte Datenbank sein. Das wäre allerdings unnötig, das organisiert die Wissenschaftsgemeinde seit Jahren selber und gut.
Pharmaindustrie pocht auf Patentschutz
Die Pharmaindustrie spielte bei der Bewältigung der Corona-Pandemie eine entscheidende Rolle. Ihren grossen Anstrengungen war es zu verdanken, dass ab Ende 2020 nicht einmal ein Jahr nach dem offiziellen Beginn der Pandemie zwei erste Impfstoffe in den USA und Europa zur Verfügung standen. In den darauffolgenden zwei Jahren produzierten Pharmaunternehmen zusammen mit Zulieferern so viele Vakzine, dass bald mehr Dosen erhältlich waren als nachgefragt wurden.
Die Pharmaindustrie werde für die Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen auch bei der nächsten Pandemie kritisch sein, betont der Direktor des globalen Pharmaverbands IFPMA, David Reddy, gegenüber der NZZ. Laut seinen Angaben wird es von zentraler Bedeutung sein, dass Unternehmen so schnell als möglich Zugang zu Informationen über Erreger erhalten werden. Zugleich, so Reddy, müssten Pharmafirmen Gewähr haben, dass der Patentschutz eingehalten werde. Nur so liessen sich die grossen Risiken kompensieren, die mit der Erforschung neuer Arzneimittel und Vakzine einhergingen.
Im nun verabschiedeten Pandemievertrag steht geschrieben, dass die Anerkennung des Patentschutzes «wichtig für die Entwicklung neuer medizinischer Produkte» sei. Derselbe Satz enthält indes auch die Aussage, dass die Vertragspartner die Bedenken wegen der Auswirkungen des Patentschutzes auf Preise berücksichtigen sollten und es die Regeln der Welthandelsorganisation erlaubten, in medizinischen Notlagen den Patentschutz vorübergehend ausser Kraft zu setzen.
Eingriff in die Vertragsfreiheit
Diese Wortwahl ist nicht geeignet, um Vertrauen bei Pharmaunternehmen zu wecken. Im Abschnitt zum Thema des Technologietransfers zwischen reichen und ärmeren Staaten heisst es zudem, dass Patentinhaber ermutigt werden sollten, auf sonst übliche Gebühren bei der Nutzung ihrer Patente durch Dritte zu verzichten. Falls dies keine Option sei, sollten die Lizenzgebühren wenigstens in «vernünftiger» Höhe angesetzt werden.
Diese Aufforderung greift spürbar in die Vertragsfreiheit von Wirtschaftsakteuren ein. Immerhin hält der Pandemievertrag an mehreren Stellen fest, dass der Technologietransfer für alle Beteiligten auf freiwilliger Basis erfolgen solle. So soll offenbar kein Unternehmen aus einem Industriestaat gezwungen werden, lokale Partner in Schwellenländern beim Aufbau von Produktionsstätten für Impfstoffe oder Medikamente zu unterstützen. Gleichzeitig ändert dies nichts an der klaren Absicht der WHO und ihrer vielen Mitgliedstaaten aus ärmeren Regionen der Welt, in der nächsten Pandemie die Abhängigkeit von Lieferungen aus Industrieländern deutlich zu reduzieren.
Der globale Pharmaverband IFPMA beteiligte sich aktiv am über dreijährigen Verhandlungsprozess für den Pandemievertrag. Allerdings warnt er in einem Mediencommuniqué die WHO davor, Initiativen jenseits ihres Kernauftrags zu starten. Er verweist dabei auf das angespannte weltpolitische Umfeld und die Verschlechterung der Finanzlage bei der Weltgesundheitsorganisation.
Viele unverbindliche Formulierungen
Nach grossem bürokratischem Aufwand unter Federführung der WHO tönt das geplante System zur Verteilung von wichtigen Gütern während einer Pandemie. Unbestritten ist, dass die Lieferketten während der Pandemie für viele Produkte nicht immer funktionierten und gerade ärmere Länder oftmals das Nachsehen hatten. Doch ob eine Sammlung und Verteilung durch die WHO das Problem löst, ist fraglich.
Viele Forderungen der ärmeren Länder wurden im Vergleich zu früheren Textfassungen stark abgeschwächt. So wird zwar nach wie vor an vielen Stellen im Text darauf hingewiesen, dass die unterzeichnenden Staaten ärmere Länder finanziell unterstützen sollten, zum Beispiel beim Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens, bei der Überwachung von Erregern oder der Errichtung von Produktionsstätten für Medikamente.
Doch es werden – wie auch bei anderen Paragrafen des Vertragswerks – zahme Formulierungen verwendet. Länder werden «aufgefordert», «ermuntert», sollen «unterstützen». Mehrfach wird festgehalten, dass die Unterzeichner etwas nur in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen nationalen Gesetzen umsetzen sollten. Verpflichtungen sind nur bindend, wenn jeweils alle Betroffenen – also Länder wie Unternehmen – übereinstimmend einen Vertrag untereinander abgeschlossen haben.
Die Sorge, der Vertrag sei ein WHO-Diktat, ist somit unberechtigt. Es werden weder Zwangsimpfungen noch Maskenpflicht, Lockdowns oder andere konkrete Massnahmen zur Eindämmung von Erregern in Pandemiezeiten vorgeschrieben. Jede Regierung entscheidet nach wie vor selber, was sie gegebenenfalls anordnet.
Doch die unverbindlichen Formulierungen lassen Zweifel aufkommen, ob der Vertrag seine ursprüngliche Aufgabe, Länder besser auf eine Pandemie vorzubereiten und während einer solchen Phase ein effizienteres Management zu ermöglichen, erfüllen kann. Denn es bleibt in sehr vielen Bereichen den Ländern überlassen, ob sie die vielen Aufforderungen und Ideen auch wirklich umsetzen. Zudem ist offen, wie ärmere Staaten zum Beispiel eine Überwachung von Erregern oder den Ausbau ihres Gesundheitssystems realisieren können.