Exklusive Zahlen der Staatsanwaltschaft zeigen: Seit der Pandemie häufen sich im Kanton Zürich die Raserdelikte.
Ostern 2021, kurz vor 19 Uhr. Dichter Verkehr, die halbe Schweiz ist auf den Strassen unterwegs. Da kommt ein junger Kosovare aus dem Kanton Schwyz auf eine hirnrissige Idee: Zusammen mit seinem Kumpel liefert er sich ein Rennen auf der Autobahn.
Auf der A 3 von Zürich in Richtung Chur beschleunigen der Kosovare und der Serbe ihre Boliden auf 200 km/h. Der eine steuert einen Mercedes, der andere einen BMW. Beide sind Junglenker, 21- und 22-jährig, aber ihre Autos sind halbe Rennwagen. Von 600 PS wird der Staatsanwalt in der Anklage schreiben. «Ich hatte ein Rauschgefühl», wird der junge Kosovare später vor Gericht sagen.
Lange dauert das Rennen nicht: In Horgen zieht die Polizei die beiden Männer aus dem Verkehr. Beim Kosovaren stossen die Ermittler bald auf weit mehr: Der junge Mann hat seine Raserfahrten auf seinem Smartphone dokumentiert.
Auf dem Mobiltelefon des jungen Kosovaren finden sich sieben solche Videos. Einmal brettert er mit 230 km/h über die Autobahn, ein andermal rast er bei Schneefall mit 200 km/h. Während er seinen Wagen lenkt, filmt er seine Raserei. Einmal lässt er seinen 13-jährigen Bruder seinen Mercedes lenken, während er ihn dabei filmt.
Raserdelikte steigen im Kanton Zürich bedenklich an
Vier Jahre später sitzt der Kosovare in Horgen vor dem Bezirksgericht, wo er versucht, dem Richter seine Taten zu erklären. Er sagt: «Ich wollte testen, was ich kann, was mein Auto kann.» Mit den Videos habe er die Bestätigung der Kollegen gesucht. «Ich wollte dazugehören.»
Die Kollegen von früher ist er los, wie er erzählt. Aber die Videos der Raserfahrten sind noch da. Sie sind eine erdrückende Beweislast.
Und der Verkehrsrowdy hat ein weiteres Problem. Er steht Zürichs Raserjäger gegenüber. So nennen die Medien Michael Huwiler. Huwiler ist der Leiter Strassenverkehr bei der Staatsanwaltschaft Zürich. Zum Fall des jungen Kosovaren sagt Huwiler: «Reiner Zufall, dass es hier keine Toten oder Verletzten gab.»
Huwiler blickt mit Sorge auf die Entwicklung auf Zürcher Strassen. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Raserdelikte in einem bedenklichen Mass gestiegen. Vor allem die Pandemie glich einem Beschleuniger. Das belegen Zahlen der Zürcher Staatsanwaltschaft, die sie für die NZZ erhoben hat. Im Jahr 2020 rapportierte sie noch 140 Raserfälle, drei Jahre später waren es bereits 195 Fälle.
Jedes Jahr registrierten die Behörden rund zwanzig Raserdelikte zusätzlich. Neben massiv überhöhter Geschwindigkeit fallen darunter auch Rennen oder riskante Überholmanöver. Die Täter: meistens männlich und jung.
Der Staatsanwalt Michael Huwiler sagt: «Jeden sechsten Tag haben wir im Kanton Zürich einen schweren Verkehrsunfall, den Raser verschuldet haben.»
Junglenker kommen mit Geldstrafe davon
Bei den Zürcher Behörden hat der Kampf gegen Raser hohe Priorität. Kein anderer Kanton zieht so viele Raser aus dem Verkehr wie Zürich. 95 Personen wurden 2023 wegen qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln verurteilt. Seit der Pandemie ist diese Zahl konstant.
Mit seinem harten Vorgehen steht der Kanton Zürich aber ziemlich alleine da: Im Kanton Bern gab es 2023 lediglich 37 Verurteilungen, im Aargau 45, in St. Gallen 22 und in Luzern 20. Und in Zug gab es sogar keine einzige Verurteilung.
Das Raserthema sorgte in den letzten Jahren auch auf der nationalen Politbühne für Kontroversen. 2021 hoben National- und Ständerat die Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis auf. Die Begründung: Das Parlament wollte den Richtern mehr Spielraum geben.
Doch dann drohte die Stiftung Roadcross mit einem Referendum. Umfragen zeigten, dass die Forderung nach Härte bei der Bevölkerung gute Chancen hatte.
Am Ende kam es zu einem Kompromiss. Die Mindeststrafe blieb zwar bestehen, wurde aber aufgeweicht. Seit Oktober 2023 sind für Raser neu auch Geldstrafen möglich. Diese werden aber nur dann verhängt, wenn das Tempo aus achtenswerten Gründen überschritten wurde.
Dazu gehört etwa ein medizinischer Notfall, der eine Raserfahrt ins Spital rechtfertigen würde. Milder kommt man auch davon, wenn man in den letzten zehn Jahren kein schweres Verkehrsdelikt begangen hat. Davon profitieren auch Junglenker.
«Die erfahrenen Verkehrsteilnehmer werden damit gegenüber Junglenkern schlechtergestellt», sagt der Staatsanwalt Huwiler. Wenn ein 18-jähriger Raser mit einer bedingten Geldstrafe bestraft werde, sei dies nicht im Sinne des Gesetzgebers.
Sie schalten die Stabilitätskontrolle aus
Der junge Kosovare gibt sich vor Gericht in Horgen geläutert. Er hat ein Programm für Verkehrsrowdys durchlaufen. Der Kurs habe ihm geholfen, sein Rückfallrisiko zu reduzieren, sagt er. «Ich habe gemerkt, was ich alles falsch gemacht habe.»
Der Mercedes von damals steht inzwischen in der elterlichen Garage. Und er schraube hobbymässig an Oldtimern, die hochgezüchteten Boliden interessierten ihn nicht mehr.
Vor vier Jahren tickten er und sein serbischer Kumpel anders. Beide fuhren sie schnelle, leistungsstarke Wagen. Die eigene Familie ermöglichte es ihnen. Es waren die Eltern, die ihren Söhnen die Autos geleast hatten. Der Mercedes des Kosovaren lief über dessen Vater, der BMW des Serben über dessen Mutter.
Für den Staatsanwalt Huwiler sind die PS-starken Boliden eines der grossen Probleme. Er sagt: «Es ist nicht sinnvoll, dass ein 18-Jähriger in der Schweiz ein Auto mieten oder leasen kann, das 700 PS hat.» So ein Wagen sei für die Rennstrecke gemacht und gehöre nicht in die Hände von jungen Männern.
Was der Staatsanwalt zudem beobachtet: Die Lenker schalten immer wieder das elektronische Stabilitätsprogramm des Autos aus. «Weil sie die Räder durchdrehen lassen und driften wollen, was oftmals verheerende Folgen hat.»
Huwilers Lösung: «Es braucht eine PS-Begrenzung für Junglenker, so wie in anderen europäischen Ländern.» Der Gesetzgeber sollte laut Huwiler eine Obergrenze definieren. «Beispielsweise wäre irgendwo bei 150 oder 200 PS Schluss», sagt der Staatsanwalt.
Tatsächlich gelten im Ausland mancherorts solche Leistungsbegrenzungen. In Italien dürfen Junglenker in ihrem ersten Jahr nur Autos bis 75 PS steuern, in Kroatien ist für 25-Jährige bei 102 PS Schluss.
Der Nationalrat hat allerdings vor drei Jahren die Forderung nach einer PS-Begrenzung abgelehnt. Auch der Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf. Seine Begründung: Lediglich 3,6 Prozent der Unfälle mit Verletzten oder Getöteten würden von Neulenkern verursacht, die ein Auto mit mehr als 136 PS fahren.
Ein Schweizer ohne Schweizer Pass
Für den jungen Kosovaren steht vor dem Bezirksgericht in Horgen einiges auf dem Spiel. Staatsanwalt Huwiler fordert neben einer Freiheitsstrafe von vier Jahren auch einen Landesverweis von sechs Jahren. Er sagt: «Der Beschuldigte gefährdete bewusst Menschenleben.»
Ausserdem fanden die Ermittler auf dem Handy des Rasers noch weiteres belastendes Material: Videos mit Tier- und Kinderpornografie. Etwas, das der junge Mann und sein Verteidiger als kindischen Voyeurismus bezeichnen.
Der Verteidiger betont, wie fatal ein Landesverweis für den jungen Mann wäre. Zu Kosovo habe dieser nämlich kaum einen Bezug. Ausser ab und zu dort die Ferien zu verbringen. «Er ist ein Schweizer ohne Schweizer Pass.»
Der junge Mann sei hier geboren, er habe immer gearbeitet und mit seiner Familie ein Geschäft aufgebaut. Er gehe hier campen, fahre hier Ski. «Eine Landesverweisung würde die ganze Familie zerstören», sagt der Anwalt.
So weit kommt es nicht, der junge Raser kommt mit einem blauen Auge davon. Das Bezirksgericht Horgen verurteilt ihn zwar zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 36 Monaten. 10 Monate davon muss er in Halbgefangenschaft absitzen. Allerdings verzichtet es auf eine Landesverweisung.
Der Kumpel des Kosovaren, ein junge Serbe, wird im abgekürzten Verfahren zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt.
Die Reue des jungen Kosovaren und der Umstand, dass er in der Schweiz aufgewachsen ist und keine Vorstrafen hatte, sprechen laut dem Gericht gegen einen Landesverweis.
In seinem Schlusswort gelobt der junge Mann Besserung, und er verspricht: «Ich bin nicht mehr der gleiche Mensch.» Statt Boliden fahre er nur noch normale Geschäftsautos.