Die italienische Regierungschefin will an vorderster Front mitreden und gleichzeitig einen eigenständigen Weg gehen – ein komplizierter und konfliktreicher Ansatz, der sie derzeit ziemlich isoliert.
Zuletzt kam ihr der Papst zu Hilfe. Die Feier zu dessen Amtseinführung am letzten Sonntag bescherte Rom einen weiteren Grossaufmarsch wichtiger Politiker – und Giorgia Meloni ein paar Bilder, die sie gut brauchen konnte.
Eines davon zeigte sie mit dem amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance und der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen an einem Besprechungstisch im Palazzo Chigi, dem Sitz der italienischen Regierung. Ein anderes mit dem neuen deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz beim Handshake in Rom, sichtlich bemüht um ein gutes Einvernehmen mit seiner Römer Amtskollegin.
Meloni mit den Grossen der Welt im Gespräch, Meloni als Vermittlerin zwischen Washington und Brüssel, Meloni als zentrale Figur auf dem diplomatischen Parkett: Es waren Bilder ganz nach dem Gusto der Regierungschefin. Und nach jenem der italienischen Öffentlichkeit, die jeweils peinlich genau registriert, mit wem sich die führenden Politiker des Landes treffen, was sie dabei sagen (und tragen) und wie sich die Gäste aus dem Ausland über Italien äussern.
Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass die Italiener, die aufgrund ihres reichen kulturellen und zivilisatorischen Erbes eigentlich über genügend Selbstbewusstsein verfügen müssten, immer etwas ängstlich beobachten, wie ihr Land von der Welt wahrgenommen wird. Umso dankbarer werden Komplimente entgegengenommen – und umso hektischer reagiert die Politik, wenn diese ausbleiben.
Wo ist Meloni?
Als sich Emmanuel Macron, Keir Starmer und Friedrich Merz kürzlich im Zug nach Kiew effektvoll als europäisches Vorausdetachement in Szene setzten, fragten die Zeitungen in Italien besorgt: Wo ist Giorgia? Es folgten tagelang und seitenfüllend Spekulationen über ihre Abwesenheit in einem zentralen Augenblick der Geschichte und über die vermeintliche Isolation des Landes in Europa und auf der Welt.
«Sie hat den Zug verpasst», mokierte sich die Oppositionsführerin Elly Schlein vom sozialdemokratischen Partito Democratico (PD). Italien fehle ausgerechnet in dem Moment, in dem sich die europäischen Partner mit Donald Trump ins Vernehmen über einen Frieden in der Ukraine setzten. Der frühere PD-Ministerpräsident und heutige Zentrumspolitiker Matteo Renzi verortete Meloni in der «zweiten Liga der Diplomatie» und forderte sie auf, endlich wieder an denjenigen Tisch zurückzukehren, «der zählt».
In den Medien machte derweil ein anderes Bild die Runde: Es zeigt Mario Draghi, Melonis Amtsvorgänger, zusammen mit Olaf Scholz und Emmanuel Macron im Zug nach Kiew. Das war im Sommer 2022, und der polemische Subtext lautete: Das war damals, als Italien noch etwas zählte.
Die Realität ist komplizierter. Beobachter vermuten hinter Giorgia Melonis Absenz eine persönliche Unverträglichkeit mit Emmanuel Macron. Es gibt dafür immer wieder Anzeichen. Bereits zu Beginn der Amtszeit von Meloni kam es mit dem Élysée zu Streitereien und Sticheleien über die Flüchtlingspolitik. Sie wurden zwar beigelegt, aber das Gerücht, Meloni könne Macron nicht ausstehen, hielt und hält sich hartnäckig. «Inakzeptabel», nannte der liberale Politiker Carlo Calenda diese Einstellung. Wer stets von den nationalen Interessen rede wie Meloni, dürfe nicht wegen persönlicher Befindlichkeiten abseitsstehen, wenn es darauf ankomme.
Meloni ihrerseits erklärte ihre Abwesenheit im Zug nach Kiew damit, dass Italien sich nicht zur Koalition der Willigen zähle, die bereit sei, Truppen in die Ukraine zu senden. Es ergebe keinen Sinn, sich an Gesprächsformaten zu beteiligen, die Ziele verfolgten, die Italien nicht teile, sagte Meloni am Rand des europäischen Gipfeltreffens vom vergangenen Freitag in Tirana.
Darum, um die Entsendung von Truppen, sei es gerade nicht gegangen, erwiderte Macron vor der Presse. Man habe sich vielmehr über den geplanten Waffenstillstand in der Ukraine unterhalten, sagte der französische Präsident und betonte, man sollte sich davor hüten, Falschinformationen zu verbreiten. Auch in Tirana hatte sich Macron zuvor mit Starmer, Merz und dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk sowie Wolodimir Selenski separat getroffen und dabei mit Donald Trump telefoniert – ohne Meloni.
Es war der vorerst letzte Akt im Drama um das abwesende Italien. Am Samstagabend, noch vor der Amtseinführung des neuen Papstes, versuchte Friedrich Merz die Wogen zu glätten. Man dürfe sich nicht auseinanderdividieren lassen, sagte der deutsche Kanzler in Rom. Er werde sich dafür starkmachen, dass Italien in alle laufenden Anstrengungen zur Konfliktlösung in der Ukraine einbezogen werde. Inzwischen wird die italienische Ministerpräsidentin wieder zugeschaltet, wenn sich die Europäer mit Donald Trump telefonisch kurzschliessen.
Mit Trumps Wahl wurde es schwieriger
Für Meloni sind es gerade besonders heikle Momente ihrer bald dreijährigen Amtszeit. Nachdem sie mit ihrer aus der postfaschistischen Bewegung hervorgegangenen Partei Fratelli d’Italia (FdI) im September 2022 die Parlamentswahl gewonnen hatte und danach zur Regierungschefin gewählt worden war, sorgte sie mit einer pragmatischen und klar atlantisch-europäisch ausgerichteten Aussenpolitik für Aufsehen. Ihre Auftritte auf der internationalen Bühne waren konziliant und kooperativ. Von der schrillen Rhetorik, deren sie sich noch im Wahlkampf bedient hatte, war nur mehr wenig zu spüren. Rasch fand sie das Wohlwollen der Europäer, gerade auch im zentralen Migrationsdossier.
Mit der Wahl Donald Trumps in den USA veränderte sich die Lage. Meloni schien sich plötzlich nicht mehr ganz so geschmeidig auf der europäischen Bühne zu bewegen. Sie begann, bei aller Loyalität zu den Europäern und zur Ukraine, aussenpolitisch einen eigenständigeren Kurs zu fahren und sich ein Stück weit von Brüssel zu emanzipieren.
Als sich die Konturen der Trumpschen Aussenpolitik zeigten und die neue Administration in Washington in Sachen europäische Verteidigung und Handelspolitik die Schrauben anzog, schien ihre Stunde gekommen zu sein: Meloni bot sich als Brückenbauerin zwischen Europa und den USA an und rühmte sich der guten persönlichen Beziehungen zu Trump und zu Elon Musk. Als einzige europäische Regierungschefin nahm sie an der Amtseinführung Trumps teil. Auch in dessen Residenz in Mar-a-Lago war sie schon bei einem privaten Dinner.
Doch die Sache gestaltete sich harziger, als es sich Meloni wohl vorgestellt hatte. Ungeachtet seiner Sympathie für die Italienerin hat Trump Emmanuel Macron und Keir Starmer zuerst im Weissen Haus empfangen und pflegt noch immer einen engen Kontakt nach Paris und London. Möglich, dass seine und Musks zur Schau gestellte Italien-Affinität in erster Linie sentimentaler und weniger geschäftsmässiger Natur ist. Washington ist offensichtlich nicht auf eine Brückenbauerin in Rom angewiesen. Die amerikanische Sicht auf Italien war schon immer etwas gönnerhaft. Daran hat sich mit der Wahl Trumps bisher nichts geändert.
Hilfe aus dem Vatikan
Dazu kommt, dass Melonis Koalitionspartner in Rom je eigene aussenpolitische Präferenzen pflegen und damit die Spielräume eingrenzen. Während Aussenminister Antonio Tajani von der gemässigt-rechtsbürgerlichen Forza Italia für nichts zu haben ist, was Italien von der EU wegführt, kokettiert am rechten Rand der Verkehrsminister Matteo Salvini von der Lega unverhohlen mit seinen guten Kontakten zu Politikern wie Marine Le Pen oder Viktor Orban, die regelmässig gegen die EU wettern. Für Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron hat der Lega-Chef nur Spott übrig. Dieser sei ein «matto», ein Verrückter, meinte er kürzlich.
Für Meloni ist es anspruchsvoll, den Laden zusammenzuhalten. Auf die Frage, ob es richtig gewesen sei, dass seine Chefin nicht mit nach Kiew gereist sei, soll Tajani laut Medienberichten geantwortet haben: «Fragen Sie sie selbst.»
Meloni weiss, dass ihre Wertschätzung in Italien eng mit ihren Auftritten auf dem internationalen Parkett verknüpft ist. Die Italiener möchten eine Regierungschefin, die geliebt und respektiert wird. Begibt sie sich in die Isolation, ist sie auch innenpolitisch in Gefahr.
Giorgia Meloni wird dieses Kapital kaum aufs Spiel setzen wollen. Eine echte Strategie, diesem Dilemma zu begegnen, scheint sie indessen nicht zu haben. Auch deshalb kommt die Aufmerksamkeit, die Rom dank dem neuen Papst Leo XIV. derzeit zuteilwird, zur rechten Zeit. Sie sorgt für die erwünschten Bilder.