Japan Airlines hat seit 1985 kein Todesopfer zu beklagen. Die drastische Art, Sicherheitskultur zu vermitteln, könnte ein Schlüssel dazu sein.
Eine Katastrophe kommt in Japan oft nicht allein. So wie 2011, als erst ein Seebeben riesige Tsunamis auslöste, die mehr als 20 000 Menschen töteten, und es als Folge zum nuklearen GAU in Fukushima kam. Auch zum Jahresbeginn 2024 ereilte Zentraljapan ein für mindestens 48 Menschen tödliches Erdbeben, und es trafen Tsunamis auf Land, wenn auch mit weniger extremen Auswirkungen.
Der Start ins Jahr 2024 brachte ein weiteres Unglück: Am frühen Montagabend Ortszeit machte sich an Japans grösstem Flughafen Tokio-Haneda ein zweimotoriges Propellerflugzeug der japanischen Küstenwache mit sechsköpfiger Besatzung und Hilfslieferungen an Bord zum Start in die Erdbebenregion bereit.
Dabei muss die Dash-8 zum falschen Zeitpunkt auf die Startbahn gerollt sein, als diese noch nicht freigegeben war. Das Flugzeug verfügte nicht über das in der Passagierluftfahrt übliche ADS-B-System, das automatisch die genaue Position übermittelt. Im Cockpit selbst ist ADS-B zur Angabe der eigenen Position im Bodenverkehr ohnehin nicht die Regel. Daher waren die Fluglotsen und die Piloten des zu dieser Zeit anfliegenden Inlandfluges JL516 nicht darüber im Bilde, dass hier ein gefährliches Hindernis auf der Bahn stand, auf der um 17 Uhr 47 Ortszeit ein Airbus A350-900 mit 379 Menschen an Bord landete.
Kurz nach dem Aufsetzen kollidierte das Grossraumflugzeug von Japan Airlines (JAL) mit der Dash-8, aus der sich der Pilot retten konnte, während die fünf anderen Insassen starben. Die A350 kam später auf der Piste zum Stehen und hatte unter dem Hauptfahrwerk Feuer gefangen. Wie durch ein Wunder gelang es, obwohl wegen der Flammen nicht alle Türen genutzt werden konnten, alle Passagiere und Crewmitglieder zu evakuieren – nur wenige wurden dabei verletzt.
Was leicht erneut in einer Katastrophe hätte enden können, ging zumindest bei dem fast voll besetzten Inlandflug aus Sapporo glimpflich aus. Erstmals seit Einführung der neuen Generation von Verkehrsflugzeugen, deren Rümpfe statt aus Aluminium aus Kohlefaser-Verbundwerkstoff gefertigt sind wie die Boeing 787 und die A350, ging ein solches am Montag in Flammen auf – und das liess sich auch noch weltweit per Livestream aus Tokio verfolgen.
Experten dürften dankbar sein über die Fülle an Daten, die sie so gewonnen haben – und über die Erkenntnis, dass moderne Verkehrsflugzeuge so sicher sind wie nie zuvor. Denn es war gut zu verfolgen, wie lange es dauerte, bis sich das zunächst im Bereich des Hauptfahrwerks entstandene Feuer ausbreitete und erst nach über einer Viertelstunde schliesslich der ganze Rumpf in Flammen stand.
Früher waren Verkehrsflugzeuge, nachdem sie Feuer gefangen hatten, mitunter innerhalb von Minuten völlig ausgebrannt. Wichtiger Unterschied heute sind die strengen Vorschriften für Feuerresistenz bei der gesamten Kabineneinrichtung, etwa an Sitzbezügen, Teppichen und Wandverkleidungen, so dass ein Feuer zumindest in der Anfangsphase noch nicht viel Nahrung findet und die Insassen gute Chancen haben, zu entkommen.
Die JAL-Crew verhielt sich vorbildlich
Mindestens ebenso entscheidend für die Rettung von 379 Menschen aber war das Verhalten der Kabinenbesatzung – und die Disziplin der Passagiere, wofür Japaner bekannt sind. So war nirgends jemand zu sehen, der mit Handgepäck eine Notrutsche herunterkam, was bei anderen Unfällen oft zu potenziell tödlichen Verzögerungen führte.
Japan Airlines verzeichnete den letzten Unfall mit Toten vor fast 39 Jahren, als am 12. August 1985 auf dem Flug JL123 eine voll besetzte Boeing 747 abstürzte und 520 Menschen starben. Ursache war das Bersten des zuvor von Boeing fehlerhaft reparierten Druckschotts. Der Unfall ist bis heute der schlimmste der Luftfahrtgeschichte mit einem einzelnen Flugzeug.
Anfang der 2000er Jahre machte JAL wiederum durch eine Serie von Sicherheitszwischenfällen von sich reden, bei denen glücklicherweise niemand zu Tode kam. Im Jahr 2005 kritisierte die nationale Zivilluftfahrtbehörde die Sicherheitsdefizite der Fluggesellschaft und empfahl ihr die Einrichtung eines Sicherheits-Dokumentationszentrums. Daraus entstand das 2006 eröffnete JAL Safety Promotion Center.
Die weltweit in dieser Drastik einmalige Lehrschau am Flughafen Tokio-Haneda, nur wenige hundert Meter von der aktuellen Unglücksstelle entfernt, widerspricht allen sonst in der Luftfahrt üblichen Gepflogenheiten. Die sehen nämlich vor, dass von Unfällen betroffene Gesellschaften diese Krisen so schnell wie möglich vergessen machen wollen, um Ruf- und Geschäftsschädigungen möglichst zu begrenzen.
Nicht so JAL. Hier steht die Schreckensschau auf über 700 Quadratmetern Fläche im Stil eines modernen Museums gegen vorherige Anmeldung sogar dem interessierten breiten Publikum offen. Zerfetzte Fragmente des mächtigen 747-Leitwerks und des geborstenen Kabinen-Druckschotts ebenso wie herzzerreissende Abschiedsnachrichten, flüchtig auf Spucktüten und Schreibblocks gekritzelt, sprechen eine viel drastischere Sprache als lange Erklärungen.
Hauptzweck der Schau ist es, den über 36 000 Mitarbeitern der JAL-Firmengruppe Sicherheitsbewusstsein einzuimpfen. Jeder, der bei JAL anfängt zu arbeiten, muss hier ein Seminar besuchen. «Das Center ist der Startpunkt für unser Sicherheitsbewusstsein», sagt Masato Mukoyama, der Direktor. «Wir haben drei Missionen: Wir wollen die Trauer um die Opfer wachhalten, wir wollen die Sicherheit stärken, und wir wollen die Lektionen, die wir aus dem Absturz gelernt haben, an die nächste Generation weitergeben. Ausserdem können wir uns nie genug entschuldigen für den Unfall.»
Die Einrichtung ist also vor allem Teil der Schuldbewältigung auf japanische Art, die sich fundamental von jener in der westlichen Welt unterscheidet. Als Teil davon hat JAL auch mit Millioneninvestitionen eine Gedenkstätte nahe der Absturzstelle nördlich von Tokio und eine Strasse in das Berggebiet des Absturzortes bauen lassen.
Dazu hat die Airline ein Netz von gut gepflegten Wanderwegen durch das steile Gelände angelegt, in dem 1985 Wrackteile und Überreste der Opfer verstreut lagen. Auch dies ist heute eine Art Pilgerstätte, vor allem für organisierte Touren von JAL-Angestellten und anderen Unternehmen, für die der Besuch auch hier obligatorisch ist.
Gedenkstätte zur Katastrophenbewältigung
Einige Angehörige von Opfern brandmarken diese Orte als «Propaganda», zumal manche an der offiziellen Absturzursache zweifeln. Aber die Mehrzahl schätzt die Anstrengung: «Nach dem Crash hatte ich mir 21 Jahre lang gewünscht, dass die 520 verlorenen Leben noch zu etwas gut sind, und die Wrackteile zu bewahren und öffentlich auszustellen ist der erste Schritt dazu, auf Dauer die Erinnerung daran zu bewahren, was damals passierte», sagt Kuniko Miyajima, die damals ihren kleinen Sohn verlor.
Seit 2007 hat auch die andere grosse japanische Fluggesellschaft, All Nippon Airlines (ANA), ein vergleichbares «Sicherheits-Erziehungscenter», ebenfalls nahe dem Flughafen Tokio-Haneda. ANA allerdings hat ihren letzten tödlichen Unfall 1971 erlitten, aber selbst vom damaligen Unglücksflugzeug sind hier Originalfragmente ausgestellt.
«Diese Zentren sind wichtige und sehr greifbare Elemente für die Leute, um zu erkennen, was die Konsequenzen sind, wenn die Dinge nicht richtig gemacht werden», sagt Christopher Hood, Professor für Japanologie an der Cardiff University in Wales, der sich ausgiebig der Aufarbeitung von JL123 gewidmet hat. «Sie sind ein sehr wichtiges Teil des Netzes, um sicherzustellen, dass das Bewusstsein unter den Mitarbeiten geschärft ist – sie vermitteln das viel drastischer als normale Trainingseinrichtungen», so Hood.
Dies hat bei dem Unglück zu Jahresbeginn in Tokio offenbar gut funktioniert. Und sogar im Airbus-Hauptquartier in Toulouse wurde im vergangenen Jahr mit ausdrücklichem Hinweis auf das JAL Safety Center eine vergleichbare Einrichtung eröffnet. Da passt es gut ins Bild, dass 2023 das zweitsicherste Jahr der Luftfahrtgeschichte war und eine mögliche Katastrophe zu Jahresbeginn in Tokio vermieden werden konnte.