Der Nahverkehr müsse wertvoller werden – sagt Frank Schuster von Tricon Design. Wie das konkret aussehen kann, zeigt das Designkonzept für die nächste Generation der Stuttgarter Stadtbahn.
Die süddeutsche Grossstadt Stuttgart bekommt wieder eine neue Stadtbahn – nicht sofort, aber schon bald. Im Frühjahr 2026 sollen die ersten Züge der S-DT 8.16 genannten Baureihe auf die Schienen kommen. Wobei sich in der Vergangenheit derlei Terminzusagen seitens der Bahnhersteller immer einmal wieder in Luft auflösten, oft wegen Softwareproblemen.
Momentan aber steht der Zeitplan, gefertigt wird die vierte Generation der Bahn von Stadler Deutschland in Berlin-Pankow, wo man auch für die vorhergehenden, ab 2010 ausgelieferten Baureihen DT 8.12 bis 8.15 zuständig war.
Dabei ist interessant, welchen Weg die Initianten des Projekts, die öffentliche Hand, das Designteam und die mit dem Bau der Bahnwagen beauftragte Firma, eingeschlagen haben.
Ersatz nach 3,5 Millionen Kilometern
Die erste Generation der normalspurigen Stadtbahnen (1435 Millimeter) wurde 1985 aufgegleist, als Ersatz für die alte Meterspurstrassenbahn. Der Grund für die 1976 vom Gemeinderat beschlossene aufwendige Infrastrukturumstellung: höhere Kapazitäten, schnellere Verbindungen und ein vom übrigen Verkehr getrennter Gleiskörper. Heute sind 224 Bahnen aller vier Generationen gleichzeitig auf dem derzeit 140 Kilometer langen Netz der Stuttgarter Strassenbahn AG, kurz SSB, unterwegs.
Der SSB habe viel daran gelegen, dass «die neue Bahn ihre Vorgänger nicht alt aussehen lässt», so Frank Schuster, Vorstand der Tricon AG. Die Designagentur aus dem schwäbischen Kirchentellinsfurt ist ein erfahrener Spezialist im internationalen Bahngeschäft. Sie entwickelt gerade auch die zweite Generation der zwischen Bern und Solothurn verkehrenden RBS-Bahn Worbla – bereits die erste Generation gestaltete 2018 Schusters Team.
In Stuttgart beerbt Tricon Herbert Lindinger, Abgänger der HfG Ulm, von 1971 bis 1998 Professor an der Universität Hannover und in viele, legendäre Nahverkehrsprojekte involviert. So war er schon 1962 zusammen mit Hans Gugelot und Otl Aicher für den Hamburger U-Bahn-Typ DT2 verantwortlich. 1980 begann er die Arbeit in Stuttgart, gestaltete die ersten Prototypen und dann die Serienfahrzeuge bis zur dritten Generation. Dabei ging er so behutsam bei der Entwicklung der Formgebung vor, dass man von einem generationenverbindenden Design sprechen kann.
Neu und Alt muss zusammenpassen
Nun also folgt die vierte Generation. Auch sie soll dem Familiengedanken folgen, zugleich aber signalisieren, dass hier eine neue Bahn unterwegs ist. «Es ging nicht um ein Redesign, sondern um eine nach vorne weisende Gestaltung», so Schuster zur Betonung des Fortschrittsglaubens bei der Formgebung. «Neues Design muss im ersten Moment etwas irritieren, darf aber keinesfalls modisch sein.»
Also machte sich das Fünfer-Team von Tricon als Sieger der initialen Designausschreibung zunächst an das Exterior-Design der Bahn. «Wir beginnen immer mit der Fahrzeugfront, denn die bestimmt den ersten Eindruck bei den Nutzenden und nimmt Bezug zur Stadt.» Wie sieht die Front also künftig aus? «Geradlinig, frei von Kurven, mit wenigen Radien und eher technischer Anmutung.» Statt Scheinwerfer sind in der etwas geneigteren Front LED-Linienbänder integriert und eine weitere Linie für das Heck- und das Bremslicht – so, wie es sich für ein Zweirichtungsfahrzeug gehört. Geblieben ist die grosse Frontscheibe zum Cockpit, das in Sachen Ergonomie, Crash-Sicherheit und Sichtachsen nochmals optimiert wurde.
Doppelt so viele Mehrzweckbereiche
Die äussere Klarheit setzt sich im Inneren fort. «Wir wollten auch hier so geradlinig wie möglich bleiben», erläutert Schuster. Die Befragung von Nutzerinnen und Nutzern im Vorfeld der Designkonzeption rückte drei Gruppen ins Blickfeld, die man künftig besser ansprechen will. «Die erste Gruppe nennen wir die Mercedes-Fahrenden, die aus ihrem geschützten, komfortablen Auto in die Stadtbahn einsteigen sollen und ein hochwertiges, sauberes und zuverlässiges Fahrzeug erwarten.»
Die zweite Gruppe lässt sich eher für die Funktionalität begeistern, sie erwartet mehr Platz für sich, weil sie etwas mit sich führt, sei es einen Kinderwagen, einen Rollator, Gepäck oder ein Velo. Für sie wird es in den neuen Bahnen vier geräumige, klar definierte Mehrzweckbereiche geben.
Und dann kristallisierte sich noch eine dritte bedeutsame Gruppe heraus, junge Frauen, denen es um Sicherheit und Distanz geht: «Ihnen ist der freie Blick durch das Fahrzeug wichtig genauso wie sichere Sitz- oder Stehplätze.»
Aus all diesen Wünschen, Erwartungen und den Anforderungen des Betreibers kreierte Tricon mehrere Interior-Entwürfe, alle formal reduziert, aber klar gegliedert, transparent und eine leichte Orientierung im Raum unterstützend. «Zunächst haben wir alles ohne Farbe präsentiert, um nicht von der Strukturierung des Innenraums abzulenken.»
Erst später kamen Farben und Materialien hinzu. Eine geschickte Strategie, denn gerade hier entspinnen sich emotionale, langwierige Diskussionen, wie sich später bei der Stoffentwicklung für die Sitze zeigte. «Das war eine lange Phase, weil wir uns ein edleres, weniger leuchtendes Blau als bisher vorstellten.»
Diese Details klärte man aber schon zusammen mit dem SSB-Vorstand im Mock-up, einem 1:1-Teilmodell der Bahn, das ein realistisches Raumgefühl vermittelte und die verschiedenen Optionen für Licht, Haltestangen, Sitzanordnungen, Materialien oder Farben durchspielen liess. So konnte man zum Beispiel nachweisen, dass die bisher im Eingangsbereich verbauten vertikalen Haltestangen eher hinderlich und entbehrlich sind. Die Vorgabe, alle zwei Meter eine Möglichkeit für sicheren Halt zu bieten, liess sich erfüllen. «Übrigens auch ohne die aus meiner Sicht unsäglichen Deckenschlaufen», sagt Schuster.
Mehr Stehplätze sorgen für mehr Zufriedenheit
Die neuen Bahnen werden 152 Steh- und 98 Sitzplätze bieten. «Wir haben bewusst mehr Stehplätze vorgesehen, nicht aus Kapazitätsgründen, sondern um die Gesamtzufriedenheit zu steigern.» Das tönt etwas seltsam, denn bedeuten viele Sitze nicht viel Komfort? «Eine Vollbestuhlung ist nicht sinnvoll, denn spätestens wenn die Sitzplätze belegt sind, muss man stehen. Oder man setzt sich bewusst nicht, weil die Fahrt nur ein, zwei Haltestellen dauert.»
Stehplätze aber seien bisher immer unsichere Notplätze, ohne definierten Ort. Wer steht, blockiert Ein- oder Durchgänge. «Gestaltete Stehplätze verbessern die Zufriedenheit aller Fahrgäste.» Neu sind auch die indirekt wirkende LED-Beleuchtung sowie Edelstahlhaltestangen neben den Türen mit integrierten Lichtbändern, die beim Schliessen rot blinken. Statt die momentan häufig favorisierten, bankähnlichen Doppelsitze einzubauen, blieb es bei den erprobten Einzelsitzen – das erleichtert den schnellen, typenübergreifenden Austausch beschädigter Sitze.
Design im Auftrag des Betreibers
2020 bereits fand die erste Präsentation der Designkonzepte statt, bis zur endgültigen Fixierung der Gestaltung waren noch vier Jahre und viele Detailabstimmungen notwendig. Seit Frühjahr 2024 befindet sich das Projekt in einer neuen Phase: Diskutierten bis dato stets Designer und Betreiber miteinander, so ist Tricon nun mit dem Hersteller, also Stadler, zugange – und sorgt für die Umsetzung des designbasierten Gesamtkonzeptes.
Diese Priorität des Designs im Entwicklungsprozess scheint wichtig, denn gerade «in Deutschland sind die Ausschreibungen für neue Bahnen mehrheitlich rein kostenbasiert formuliert», sagt Schuster. Das heisst, der günstigste Hersteller erhält den Zuschlag, der dann versucht, ein sinnvolles Design zu integrieren.
Das misslingt meist, weil das Engineering eher Standardlösungen präferiert als individuelle Ideen, die nicht per se teuer sein müssen, aber viel Qualität für die Nutzer bedeuten können. Stuttgart schlug diesen Weg schon mit der ersten Stadtbahngeneration und Herbert Lindinger erfolgreich ein. Auch die Schweizer RBS verfolgt diese Strategie; «eine Art Bauherrenmodell», sagt Frank Schuster.
Welche Qualitätssprünge der Primat des Designs bringen kann, zeigte übrigens schon der ICE 3. Mitte der 1990er Jahre gestaltete das Designteam von Alexander Neumeister die neue Generation des Hochgeschwindigkeitszuges inklusive eines lebensgrossen Teilmodells – beauftragt von der Deutschen Bahn, nicht vom späteren Hersteller. Noch heute ist der ICE 3 der Massstab im internationalen Bahndesign.
Ersatz und mehr Kapazitäten
40 neue Fahrzeuge hat die SSB nun bei Stadler geordert, mit einer Option für 30 weitere Züge. 20 Züge werden die noch im Betrieb befindlichen Bahnen der ersten, fast vierzig Jahre alten Generation ersetzen. Mit den anderen 20 Bahnen will die SSB die Kapazitäten auf ihren 17 Linien im topografisch anspruchsvollen Grossraum Stuttgart ausbauen. Linien, die den Talkessel verlassen, müssen bis zu 200 Höhenmeter überwinden, daher werden alle acht Achsen angetrieben. Die aus zwei fest gekuppelten langen Triebwageneinheiten bestehenden und zusammen 39 Meter langen Bahnen meistern so Steigungen von bis zu 90 Promille.
«Der neue Fahrzeugtyp steht für hohe Qualität mit schwäbischer Zurückhaltung», so fasst Kirsten Krüger, Projektleiterin bei der SSB, die Grundidee des Betreibers knapp zusammen. Der kann sich übrigens über einen Zuschuss des Landes Baden-Württemberg von 84 Millionen Euro freuen. Leider hält man sich bei sonstigen Angaben zum Finanzbedarf in Stuttgart sehr bedeckt – mehrmalige Nachfragen nach den Gesamtkosten der Neubeschaffung blieben unbeantwortet.
Der DT 8.16 darf sich übrigens bereits jetzt mit dem Internationalen Designpreis des Landes Baden-Württemberg schmücken – das ist ungewöhnlich, weil momentan ja erst das Konzept vorliegt. Es wäre nicht das erste Mal im kostengetriebenen Bahnbereich, dass am Ende zwischen Planung und Umsetzung doch Lücken klaffen – trotz besten Absichten des Designteams.