Jarvis Cocker hat am Montag in Montreux das Comeback von Pulp gefeiert und dabei ein neues Album vorgestellt. Für ein Highlight sorgte am Vortag auch das britische Multitalent FKA Twigs.
Nein, Jamie XX, so geht das nicht mehr lange gut. Man hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren daran gewöhnt, dass Pop-Beats am Computer angefertigt werden. Das ermöglicht einen schier unerschöpflichen Reichtum an Klangfarben und rhythmischen Variationen, was talentierte Produzenten wie Jamie XX zu faszinierenden Klangbildern inspirieren kann. Aber es stellt sich immer wieder die Frage, wie Elektro-Tracks in einen konzertanten Rahmen gebracht werden sollen, wie aus Konserven Live-Musik werden kann.
Jamie XX stellt am Sonntagabend auf der Open-Air-Seebühne am Jazzfestival Montreux sein jüngstes Album vor: «In Waves». Der nerdige Produzent hat abermals verschiedenste Techno- und House-Beats mit einem überschäumenden Spektrum an Klangfarben kombiniert und mit griffigen Vocal-Samples dekoriert. Er versteht seine Kunst, keine Frage. Und anfangs ist man mitgerissen von der klanglichen Wucht, die durch die Boxen dringt.
Mixturen aus dem Pop-Fallout
Rasch aber nützte sich der Effekt der Fülle ab. Denn einerseits wirkt seine Klangvielfalt nicht mehr frisch; sie tendiert auch Richtung Beliebigkeit. In ein paar Jahren, so denkt man sich, könnte ein KI-Produzent sich wohl in entsprechender Weise durch den Fallout der Pop-Geschichte graben, um ähnliche Mixturen vorzunehmen.
Andrerseits tut Jamie XX auf der Bühne nicht viel mehr als am Mischpult ein paar Dateien anzuklicken. Während in Montreux andere Produzenten in den letzten Jahren ihre Tracks immerhin durch ein berauschendes Licht- und Video-Konzept ergänzten (etwa die Chemical Brothers), beschränkt sich Jamie XX darauf, in breitflächigen Videoscreens das tanzende Publikum zu zeigen, das sich vom einsetzenden Regen die gute Laune nicht verderben lässt.
Vielleicht war das die Idee der Programmmacher: Jamie XX sollte als DJ lediglich für etwas Stimmung sorgen und die Leute auf den Hauptact des Abends vorbereiten: auf FKA Twigs, die im Unterschied zu Jamie XX weiss, wie man auf der Basis synthetischer Pop-Tracks ein Spektakel anrichtet. Die Performance der 37-jährigen Britin mit spanisch-jamaicanischen Wurzeln erweist sich bald als fulminantes Gesamtkunstwerk, das zuletzt in intimer Musikalität gipfelt.
FKA Twigs ist ein Multitalent. So präsentierte sie sich im ersten und zweiten «Akt» ihres Konzerts vor allem als Choreografin und Tänzerin. Zu den lärmigen und peitschenden Techno-Tracks ihres neuen Albums «Eusexua» wirbelt sie zusammen mit einer neunköpfigen Tanzgruppe über die Bühne und insbesondere über ein grosses Eisengerüst mit sechs Unterabteilen.
Leiden an der Liebe
Dabei geht es einerseits zwar um die lustvolle Präsentation sinnlich-synchroner Physis. Mit einem Zitat von Madonnas «Vogue» wird etwa die queere New Yorker Ballroom-Szene gefeiert. Andrerseits aber scheinen sich die Körper oft wie leidende Schlangen oder Würmer aus den Zwängen des harten Rhythmus ebenso befreien zu wollen wie aus der Verengung von Kleidern.
Das Leiden an Liebe und Einsamkeit, körperlicher Schmerz und sexueller Rausch, das sind die grossen Themen der unvergleichlichen Künstlerin, die sich auch als Pole- und als waghalsige Schwerttänzerin in Szene setzt. Irgendwann ist es des Guten aber zu viel. Zu viel Lärm, zu viel Show!
Dass sich FKA Twigs dieser Gefahr durchaus bewusst ist, dass sie Teil einer raffinierten Dramaturgie ist, zeigt sich darin, dass sie im letzten Akt die multimediale Wust reduziert. Die Musik wird ruhiger, die dunkel gewandete Tanztruppe fügt sich zu fixen Formationen, während sich der Star, nun ganz in Weiss, jetzt erst richtig als Sängerin, als schmachtende Sirene präsentiert.
Das Repertoire führt im Finale zu FKA Twigs’ Techno-Balladen wie «Water Me» und «Sticky», mit denen sie die Pop-Musik um ein neues Genre bereichert hat. Wie sonst niemandem gelingt es ihr dabei, den mechanischen Sound an eine menschlich-körperliche Dynamik zurückzubinden. Die Klänge werden minimiert und das Timing variiert, um gesanglich und tänzerisch zu demonstrieren, wie man aus dem Rausch repetitiver Beats einer ruckartigen Verzweiflung anheimfallen kann. Die seelischen Kämpfe manifestieren sich dann in spontanen Impulsen und die Schmerzen mit spastischer Wiederholung.
Zuletzt sind alle Tänzer verschwunden. Die Sängerin ist nun allein mit ihrer Einsamkeit und einer dräuenden Stille, um ein letztes Lied zu intonieren und ihren Auftritt mit einem ebenso traurigen wie magischen Moment zu krönen.
In «Cellophane» wird sie nur noch von flüchtigen Pianoklängen begleitet, während sie ihren Liebeskummer stossweise in hohen, schrillen Klagen vorträgt. Das hohe Register erinnert an die Königin der Nacht, der Herzschmerz eher an Aida. Immer wieder hält FKA Twigs inne. Schon wird euphorisch geklatscht, doch noch und noch einmal holt die Sängerin Luft für einen nächsten Seufzer, für ein weiteres Schluchzen. Am Ende – das Piano klingt aus, das Publikum applaudiert euphorisch – nimmt FKA Twigs ihr tränenfeuchtes Gesicht aus dem Scheinwerferlicht.
Gitarre, Bass, Schlagzeug
Am Montagabend stehen dann zwei britische Bands auf der Seebühne, deren Gitarristen, Bassisten, Drummer und Sänger ziemlich genau wissen, was zu tun ist, obwohl sie sich durchaus eine gewisse Extravaganz erlauben.
Die Briten von Bloc Party zeigen, wie viel Energie noch in ihrer Band steckt. Weil es ihnen offenbar aber an Inspiration mangelt, spielen sie durchwegs bewährte Songs, die meisten stammen überdies aus ihrem Debütalbum «Silent Alarm» von 2005. Die Grooves in Funk- und Punk-Manier kommen in Songs wie «Banquet», «Price of Gasoline» oder «This Modern Love» direkt und packend über die Bühne. Und der Sänger Kele Okereke überzeugt als engagierter, wenn auch etwas eintöniger Sänger. Aber um Bravour geht es in diesem Konzert nicht. Der Reiz liegt darin, dass die Band ein Stück anspielt, und die Fans es nach ein paar Tönen oder Takten sofort erkennen: Dann schreien sie «Yeah», recken die Hände in die Höhe oder verschlucken sich am Bier vor Freude. Und man merkt, wie wichtig Wiederholungen sind für Kultur und Tradition.
Eigentlich tun die Musiker von Bloc Party etwas Ähnliches wie die Brit-Pop-Veteranen von Oasis, die ihr Live-Comeback als Ereignis des Jahres feiern lassen und dabei bloss alte Hits abspulen. Dabei ist das Comeback des Brit-Pop-Originals Jarvis Cocker und seiner Band Pulp insofern spannender, als diese ihre gegenwärtige Tournee mit dem neuen Album «More» eingeleitet hat – mit dem ersten Studioalbum seit vierundzwanzig Jahren.
So überrascht es nicht, dass Jarvis Cocker bei seinem ersten Konzert in Montreux mit sehr viel Verve, Charisma und Selbstvertrauen auftritt. Mit seinem dunkelgrauen Anzug und braunen Hemd, mit seiner schweren schwarzen Brille und dem Wuschelkopf wirkt der 61-jährige Musiker mehr wie ein zerstreuter Professor als wie ein Pop-Star. Und als Sänger erinnert er nicht nur an Idole wie David Bowie, sondern auch an Komiker wie Helge Schneider. Doch diese Figur wird begleitet von einer Aura aus Charme und Schalk.
Jarvis Cocker und seiner gewiss zehnköpfigen Band gelingt ein stimmungsvoller Auftakt mit den drei reifen und farbenfrohen neuen Songs «Spike Island», «Grown Ups», «Slow Jam» sowie dem Pulp-Hit «Disco 2000», den das ganze Publikum mitsingt. Bald zeigt sich, dass Hits tatsächlich auch für Pop-Künstler wie Pulp unabdingbar sind.
Bei Pulp nämlich hatte man die problematische Idee, im nächsten Teil des Repertoires schwierige Kompositionen wie «This Is Hardcore» oder «Sunrise» aneinanderzureihen. Diese nehmen sich von der Struktur her aus wie komplizierte Bastelbögen mit noch und noch einem Falz; oder wie Spielzeugrennbahnen mit so vielen Kurven, dass Anfang und Ende kaum mehr zusammenfinden.
Der Hit als Höhepunkt
In den Studioversionen wurde der Sound symphonisch orchestriert und variiert. Im Konzert hingegen bekommt man den Eindruck, dass die musikalische Substanz von Gitarren, Geigen, Bass und Perkussion stets in ähnlicher Weise geknetet und gepökelt wird. Der üppige Sound entspricht dabei so gar nicht Jarvis Cockers feinem Humor.
Kein Wunder also, dass man im Konzert einen längeren Durchhänger durchzustehen hat. Trotz sehr schönen, bunten, nostalgischen Visuals übrigens, die einen ins Cabaret, in die 1970er-Jahre-Disco oder in den Supermarkt versetzen. Aber eben: Auch ein Jarvis Cocker kann sich auf seine Hits verlassen. Und so führt das Konzert von Pulp doch noch in ein feierliches Finale dank «Common People».