Das Fotomuseum Winterthur wirft einen Blick auf die Nutzung und Wirkung von Fotografie im digitalen Raum. Dabei fürchtet es sich selber vor der Macht der Bilder. Aber nur selektiv.
In der gegenwärtigen Ausstellung des Fotomuseums Winterthur geht es um ein spannendes und sehr aktuelles Thema: die Verführungskraft der Bilder im Internet. Die Bilderflut im Netz ist immens und übt einen grossen Reiz auf uns aus. Sie fesselt, beeinflusst die Wahrnehmung, täuscht auch und führt nicht selten in die Irre.
Das Fotomuseum befasst sich seit gut zehn Jahren mit Fotografie im digitalen Raum. Es interessiert sich für die Wirkung, die Fotos auf Social Media, in Dating-Apps, digital mit Gesichtsfilter manipulierte Selfies auf Websites, Memes und Bildsymbole wie Emojis sowie KI-generierte Fotografien auf uns ausüben. Jetzt zeigt es 14 Werkgruppen von internationalen Kunstschaffenden, die sich mit genau diesen Fragestellungen auseinandersetzen.
Aber gleich zu Beginn, noch bevor man sich von den Bildern dieser Ausstellung verführen lassen kann und in ihren Bann geschlagen wird, warnt das Fotomuseum Winterthur seine Besucher vor der Macht der Bilder, die es zum Thema seiner Ausstellung macht. Sie können «für einige Besuchende beunruhigend oder verstörend wirken», heisst es da. Als ob man nicht genau deswegen in eine solche Ausstellung ginge. Dabei bleibt es aber nicht.
So ist Jon Rafmans Videoinstallation mit der Warnung versehen, dass sie Darstellungen enthalten von «physischer und sexualisierter Gewalt, Waffen, psychischem und physischem Leid, Suizid oder Selbstverletzung, Blut und anderen Körperflüssigkeiten sowie Tod, die Menschen jeglichen Alters sowie Tiere betreffen». Man fragt sich, in welcher Welt die Ausstellungsmacher in Winterthur leben, während Rafman uns genau dies zeigt: die Welt, in der wir leben.
Sein Video-Triptychon zeigt sogenannte «Cursed Images», also im Internet zirkulierende, «verfluchte Bilder». Da sind maskierte Menschen zu sehen, verletzte Hände, blutende Tierkadaver oder blutverschmierte Neugeborene. Oft streifen diese Bilder auch sexuelle Themen. Deren Urheber sind unbekannt, die Motive erscheinen in deplatzierten Zusammenhängen, deren ursprünglicher Kontext fehlt. Auch die Perspektiven sind oft verzerrt. Und digitale Fehler entstellen das Sujet.
Rafman animiert seine gefundenen Bilder, er verleiht ihnen leichte Bewegungen und unterlegt sie mit einer Tonspur. Das trägt zu deren unheimlicher Wirkung bei. Dass sie aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen sind, wird dem Betrachter indes schnell klar. Auch, dass sie zugleich schockieren und faszinieren können. Die irritierende Wirkung solcher Bilder hat etwas sowohl Abstossendes wie auch Anziehendes. Rafman schöpft seine Bilder aus dem digitalen Sumpf eines kollektiven Unbewussten und lässt uns damit in unheimliche Abgründe blicken.
Erste Hilfe
Ein anderes Beispiel für das offensichtliche Unwohlsein der Kuratoren, was ihre eigene Ausstellung betrifft, ist der Beitrag «#Ingrid» von Zoé Aubry (geb. 1993). Die Schweizer Künstlerin setzt sich in ihrer wandfüllenden Bildergalerie von idyllischen Stränden, Sonnenuntergängen und Blumenwiesen indirekt mit Gewalt gegen Frauen auseinander. Der Titel ihres Beitrags bezieht sich auf Ingrid Escamilla Vargas, eine junge Mexikanerin, die 2020 von ihrem Ehemann brutal ermordet wurde.
Aktivistinnen gingen auf die Strasse und protestierten gegen die voyeuristische und sensationsheischende Berichterstattung, nachdem die Behörden Fotos des verstümmelten Opfers an die Presse weitergegeben hatten. Die Protestwelle setzte sich in den sozialen Netzwerken fort, unter anderem mit einer Initiative, die zum Ziel hatte, die im Internet kursierenden Fotos des Opfers mit schönen Bildern zu überschreiben. Die Aktion #IngridEscamillaVargas verknüpfte Online-Suchen nach den entwürdigenden Fotografien des Mordopfers mit harmlosen Ansichten von Landschaften und Blumen.
Wie eine Archivarin hat Zoé Aubry die Fotografien dieses Online-Widerstands gesammelt. Ihr Bilderreigen ist nicht zuletzt auch eine Hommage an das Opfer sowie ein Weckruf, dem Thema Femizid grössere Beachtung zu schenken.
Nun würde man eigentlich denken, dass es die Aufgabe eines Museums ist, diese eindrückliche Arbeit gut zu präsentieren. Das Museum indes stellt dem Werk eine Art Care-Team zur Seite. Neben der Bilderwand ist ein QR-Code angebracht, über dem zu lesen steht: «Wenn Sie selbst von Gewalt betroffen sind oder Personen kennen, die Hilfe brauchen, finden Sie hier Anlaufstellen für Beratung und Unterstützung in der Schweiz: stopfemizid.ch/kontaktliste.»
Man fragt sich, warum das Fotomuseum eine Ausstellung macht, bei der es der Institution offensichtlich nicht ganz geheuer zu sein scheint. Fürchtet man sich vor Protest und Kritik?
Israelfeindliche Klischees
Allerdings finden es die Kuratoren wiederum unnötig, darauf hinzuweisen, dass der Beitrag der italienisch-palästinensischen Künstlerin Noura Tafeche (geb. 1987) israelfeindliche bis antisemitische Stereotype bedient. So mischt Noura Tafeche in ihrer Videoinstallation niedliche japanische Kawaii-Elemente mit gewalttätig-militärischer Gaming-Ästhetik. Dabei greift sie wiederholt auf Videomaterial zurück, auf welchem sich junge israelische Soldatinnen auf Tiktok tänzerisch in Szene setzen.
Tafeches Arbeit basiert auf einer vierjährigen Recherche zu sozialen Netzwerken und digitalen Gemeinschaften. Dabei hat die Künstlerin ein Archiv von rund 30 000 Dateien aus digitalen Plattformen angelegt. Die Verknüpfung von japanischer Niedlichkeits-Ästhetik mit der Selbstinszenierung israelischer Soldatinnen wirkt indes ziemlich konstruiert. Vor allem, wenn damit der Befund erbracht werden soll, dass hübsche Armee-Influencerinnen zur Verherrlichung militärischer Gewalt beitrügen.
In ihrem Beitrag unterstellt die Künstlerin der «Zionist Offence Force», wie sie die israelischen Verteidigungsstreitkräfte in polemischer Umdeutung des offiziellen Namens «Israel Defence Force» (IDF) nennt, propagandistische Absichten mit Mitteln weiblicher Erotik. Ihr Werk entstand übrigens vor dem 7. Oktober 2023, also vor Beginn des Kriegs in Gaza.
Das findet das Fotomuseum Winterthur offensichtlich unproblematisch. Darin und in den zahlreichen Triggerwarnungen zeigt sich eine heute verbreitete Haltung öffentlicher Kulturinstitutionen. Man biedert sich dem Zeitgeist an, der für alle möglichen Befindlichkeiten von potenziellen Opfern und Minderheiten Safe Spaces vorsieht. Und zu diesem Zeitgeist gehört auch, dass klischeebehaftete antiisraelische Haltungen kein Problem darstellen.
«The Lure of the Image – Wie Bilder im Netz verlocken», Fotomuseum Winterthur, bis 12. Oktober.