Kürzlich wurde bekannt, dass Rocksongs im russischen Strafvollzug missbraucht werden. Laute Sounds und harte Rhythmen dienen aber auch in andern Ländern als Zermürbungstaktik und Foltermethode.
Die Wahlen sind vorbei, in der Diktatur wurde der Diktator bestätigt. Und Grigori Melkonjanz bleibt nach wie vor in Untersuchungshaft. Festgenommen wurde der Vorsitzende von Golos, einer unabhängigen Bewegung zur Überwachung demokratischer Wahlen, im August 2023; ihm wurde irgendetwas Staatsfeindliches angelastet. Seither wird Melkonjanz in einer Moskauer Haftanstalt gefangen gehalten, wo er Tag für Tag das gleiche Regime erdulden muss und Tag für Tag auch die gleiche Musik.
Der Dissident ist just dadurch bekannt geworden, dass er vor Monaten auf dem Telegram-Kanal von Golos das musikalische Repertoire seiner Haftanstalt veröffentlichte, das mit angelsächsischen Stücken durchsetzt ist. Man dürfe davon ausgehen, dass die Beschallung in den russischen Untersuchungsgefängnissen überall ähnlich sei. «Jailed Russians forced to listen to Bon Jovi, Moby Songs on repeat», titelte darauf «Newsweek», «Putin lässt Gefangene mit Songs von Bon Jovi quälen», war später auch in der «Bild»-Zeitung zu lesen.
Erinnerungen an den Gulag
Im russischen Strafvollzug ist offenbar überraschend viel westliche Musik zu hören. Das Warum ist dabei nicht ganz klar. Die Gefängnis-Playlist setzt sich aus dreizehn Titeln zusammen – dazu zählt neben drei Moby-Songs («Why Does My Heart Feel So Bad», «Honey», «Bodyrock») und zwei Bon-Jovi-Nummern («It’s My Life», «One Wild Night») auch «Thunderstruck» von AC/DC. Bei den übrigen sieben Titeln handelt es sich um russische Werke: Neben der Nationalhymne finden sich Songs der Rockband Gorky Park, vor allem aber Estraden-Schlager aus den fünfziger und sechziger Jahren wie die Ballade «Wo beginnt Heimat?», «Ich liebe dich, Leben» oder der Marsch «Moskauer Mai».
Zunächst scheint das Menu ziemlich unverdächtig. Es könnte einfach auf die Vorlieben eines unterschiedlich interessierten oder orientierungslosen Gefängnis-DJ zurückzuführen sein. Beim Durchhören aber werden Gehör und Nerven durch ständige stilistische und klangliche Wechsel strapaziert. Mal pumpen volle Bässe im Diktat moderner Studiotechnik, dann wiederum kreischen die Gitarren. Die alten Aufnahmen hingegen scherbeln. Man wird zumindest unruhig und kribbelig. Möglicherweise provoziert die falsche Nostalgie der sowjetischen Schlager bei russischen Häftlingen auch Ängste und Erinnerungen an das Zwangssystem von KGB und Gulag.
Grigori Melkonjanz hat Humor. Um seinen Mut nicht zu verlieren in der Haft, erklärt er diese ironisch zur «ethnografischen Expedition». In diesem Sinne hat er auch das Gefängnisrepertoire festgehalten. Von einer eigentlichen musikalischen Tortur spricht er nicht. Aber er macht klar, dass die gellende Musik, die in den Morgenstunden regelmässig über scheppernde Lautsprecher durch die kahlen Gänge dröhnt, um in voller Lautstärke in die Zellen zu dringen, der Zermürbung der Untersuchungshäftlinge dienen soll, von denen man ein Geständnis erwartet.
Musik hat im Allgemeinen einen guten Ruf. Es gibt kaum ein menschliches Schaffen, ein künstlerisches Geschehen, das besser beleumdet wäre. Wie also sollte sie als Werkzeug fungieren, das Willen und Widerstand von russischen Internierten bricht? Zumal das russische Gefängnisrepertoire eine stilistische Vielfalt bietet. Fast möchte man sagen: Es biete etwas für jeden Geschmack.
Genau das ist aber ein wunder Punkt. Beim Geschmack kann der Mensch in strafender oder sadistischer Mission ansetzen, um Klangkunst als Instrument der Qual zu missbrauchen. Musik, die der eigenen Tradition und Kultur, den eigenen Vorlieben und Leidenschaften entspricht, mag man Lust und Genuss verdanken. Ungewohnte Sounds und unliebsame Rhythmen hingegen gehen einem rasch auf den Geist. In der Wiederholung akustischer Übergriffe und in ihrer Potenzierung durch Lautstärke können sie zu Apathie und Willfährigkeit führen, wie Folterknechte auf der ganzen Welt in Erfahrung gebracht haben.
Schon im KZ Dachau wurden durch eine Lautsprecheranlage nicht nur Hitler-Reden verbreitet, sondern auch Wagner-Arien, gellende Märsche und hymnische Kirchenchöre. Dabei ging es auch darum, die Kommunikation unter den Häftlingen zu verhindern und die Schreie schikanierter Insassen zu übertönen.
Während der griechischen Diktatur der sechziger und siebziger Jahre hat man die internierten Kommunisten stundenlang mit Volksliedern traktiert, um ihnen wahres Griechentum einzuimpfen. Und unter General Augusto Pinochet sollen Vollzugsbeamte in chilenischen Gefängnissen ihre Folter-Rituale durch bekannte Gassenhauer angekündigt haben.
No Touch Torture
Seit Butscha ist bekannt, dass ukrainische Gefangene von russischen Aggressoren gefoltert werden. Angesichts der schrecklichen Brutalität mögen einem zweifelhafte Fragen in den Sinn kommen: Wäre es vielleicht humaner, wenn Verhöre statt mit roher Gewalt mit subtileren Mitteln geführt würden – zum Beispiel mit lauten Beats und störenden Sounds?
Tatsächlich haben das die Amerikaner in den nuller Jahren im Rahmen des «war on terror» vorgemacht. Musik schien sich als No Touch Torture zu bewähren, die bei den Gefangenen keine körperlichen Spuren hinterlässt – ein Vorteil für die Täter wie scheinbar auch für die Opfer. Ehemalige Häftlinge der Gefängnisse Abu Ghraib im Irak und Guantánamo auf Kuba haben unterdessen vielfach zu Protokoll gegeben, dass sie stundenlang, nicht selten tagelang, lauter Musik ausgesetzt worden seien, was sie nicht nur um ihre innere Sicherheit, sondern auch um den Schlaf und mitunter um den Verstand gebracht habe.
Laut der Uno-Antifolterkonvention gilt als Folter «jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden (. . .), um ein Geständnis zu erzwingen». Insofern ist es Folter, wenn Gefangene, um sie zu einem Geständnis zu drängen, mit verhasster oder zu lauter Musik strapaziert werden.
Die Musik scheint während des «war on terror» zumeist allerdings nur ein Bestandteil eines komplexen Prozederes gewesen zu sein, das aus weiteren Schikanen bestand wie dem Entzug von Essen und Trinken, der Entkleidung oder dem Zwang zu ermüdenden und schmerzhaften Körperstellungen. Zuweilen wurden die Hände der Häftlinge mit Handschellen fixiert und ihnen dann ein Kopfhörer aufgesetzt.
In einem Report von ABC News von 2005 über die Foltermethode des sogenannten «Waterboarding» äusserte sich ein CIA-Sergeant nebenbei auch über den Einsatz von Musik. Er selber habe vor allem Heavy Metal eingesetzt. Die arabischen Gefangenen hätten Mühe, den harten Sound zu ertragen. Nach vierundzwanzig Stunden Metal sei ihr Bewusstsein vernebelt und ihr Wille gebrochen gewesen. Dann erst habe man mit dem Verhör begonnen.
Die Präferenz von Heavy Metal mag wenig überraschen, weil es sich um einen harten, lauten Sound handelt, in dem sich per se eine gewisse Kälte und Härte ausdrückt. In amerikanischen Haftanstalten hat man die Wahl der Folter-Songs allerdings den Ideen der Gefängniswärter überlassen. Tatsächlich sind so verschiedenste Genres zum Einsatz gekommen – von David Grays Folksong «Babylon» bis hin zu Eminems «Slim Shady». Zu den Favoriten der Folterknechte zählte auch «I Love You» – ein Kinderlied von Barney, einer singenden Dinosaurier-TV-Puppe.
In gewissen Fällen war auch der Titel oder die Botschaft ausschlaggebend für die Wahl eines Songs. Das galt zum Beispiel für «Fuck Your God», einen Song der amerikanischen Metal-Band Deicide, der den muslimischen Häftlingen vorgespielt wurde. Und die Zeile «Hit me baby one more time», wie es in einem Song von Britney Spears heisst, sollte die gefolterten Häftlinge erniedrigen und demoralisieren.
Allerdings führte gerade die Wiederholung eines Stücks oder Repertoires dazu, dass die damit Drangsalierten den Worten immer weniger Aufmerksamkeit widmeten. Das jedenfalls berichtet Ruhal Ahmed. Der Brite war zunächst in Afghanistan, später in Guantánamo inhaftiert, bevor man den Unschuldigen wieder freiliess. In Interviews hat er später darüber gesprochen, wie er mehrmals mit Musik gefoltert worden sei. Die Worte der Songs habe er nach gewisser Zeit nicht mehr verstanden, sie seien übertönt worden vom «heavy banging» in seinem Kopf. Diese Folter sei für ihn schlimmer gewesen als Gewalt, denn auf Schläge habe er sich mental vorbereiten können, nicht aber auf diese perfide Tortur.
Ein beschämender Übergriff
Im Zynismus des Missbrauchs, der klangliche Gebilde so oft wiederholt, dass sie sich in eine tückische Gewalt verwandeln, zeigt sich eine Eigenheit von Musik. Im Unterschied zu anderen ästhetischen Objekten wie Literatur, Malerei, Film ist man Beats und Sounds viel direkter ausgeliefert, weil man die Ohren nicht verschliessen kann wie die Augen.
Und noch bevor der Kopf die akustische Information verarbeitet, wird der Rumpf zu einem Resonanzkörper. Wer sich einer Musik bewusst und leidenschaftlich hingibt, erlebt einen physischen und psychischen Genuss. Bei der Folter jedoch erweist sich Musik als Übergriff, der Opfer schwächt, beschämt und erniedrigt. Ein Leben lang werden sie sich erinnern, welcher kulturellen Macht sie ihre akustischen Traumata zu verdanken haben.
Grigori Melkonjanz aber scheint seine Selbstsicherheit bisher trotz musikalischen Strapazen behaupten zu können. Seinen Witz hat er noch nicht verloren. Kürzlich liess er seine neusten Erkenntnisse aus der Banalität der Haft abermals auf dem Telegram-Kanal von Golos veröffentlichen. Diesmal ging es um den Frühstücksbrei, der abwechslungsweise mit verschiedenen Getreidesorten angerührt werde: mal mit Buchweizen, mal mit Haferflocken, Gerste, Hirse, Griess oder Graupen. Laut lachen mag man nicht über die «Forschungsergebnisse» des Dissidenten. Auch Alexei Nawalny scherzte in Haft noch kurz vor seinem Tod.