Mit Klängen und Melodien schaffe man es, direkt im Gehirn Emotionen auszulösen, ohne dass sich die Person dem entziehen könne, sagt Neurowissenschaftler Lutz Jäncke. Das wussten seinerzeit schon die Nazis.
Sieben Töne können eine ganze Welt zurückholen. In diesem Fall die Welt von Henry. Seit zehn Jahren sitzt der alte Mann in seinem Rollstuhl in einem Pflegeheim. Schweigend, den Kopf aufgestützt. Henry leidet unter Demenz. Er reagiert nicht auf sein Umfeld, nicht auf die Kamera der Filmcrew, die ihn für den Dokumentarfilm «Alive Inside» filmt. Keine Regung. Nichts. Aber dann spielt man Henry die Melodie des Gospels «Goin’ Up Yonder» vor. Sieben Töne hinauf und hinunter. «Soll ich mitsingen?», fragt er. Und singt. Sein Blick wird wach, der Kopf hebt sich. Und er erinnert sich: an den Namen seines Lieblingssängers, an sein Lieblingslied und wie er es früher genoss, Fahrrad zu fahren. Eine Welt, eben noch verschüttet durch die Demenz, ist wieder präsent.
Die Musik schafft, wozu keine Pille fähig ist. Und sie kann noch mehr. Ob hoher Blutdruck oder erhöhter Puls, ob die Dauer von Wehen unter der Geburt oder Parkinson: Dass Musik hilft, zeigen Fallbeispiele schon lange. Doch erst in den letzten zwanzig Jahren gibt es dazu vermehrt wissenschaftliche Studien. Am Universitätsklinikum Leipzig sollten Patienten während einer Knieoperation unter Teilnarkose Musik hören, andere Patienten hörten Meeresrauschen. Das Ergebnis: Die Musik hörende Gruppe benötigte 15 Prozent weniger Schmerzmittel. Aus Finnland kommt eine Studie mit Schlaganfallpatienten. Diese wurden in drei Gruppen eingeteilt; die erste Gruppe hörte mindestens eine Stunde täglich ihre Lieblingsmusik. Sechs Monate später schnitt diese Gruppe bei Tests zu Konzentration und Gedächtnis besser ab als die Kontrollgruppe ohne Musik sowie eine Kontrollgruppe, die täglich Hörbücher hörte.
Erstaunlich waren auch die Messergebnisse in der Magnetresonanztomografie: Die Musik hörende Gruppe der Schlaganfallpatienten wies eine viel deutlichere Zunahme an grauer Substanz in der gesunden Hirnhemisphäre auf. Es scheint, als habe das Musikhören die Reorganisation von Hirnfunktionen in jener Hirnhälfte unterstützt, die nicht vom Schlaganfall betroffen war.
Puccini statt Prozac
Adele statt Aspirin, Puccini statt Prozac oder Bach statt Blutdruckmedikamente, das klingt doch vielversprechend. Aber warum hat ausgerechnet die Musik eine solche Wirkung auf uns? «Es gibt tatsächlich kaum einen Reiz, der unser Gehirn so unmittelbar trifft, wie die Schallwellen», sagt Lutz Jäncke, Neurowissenschafter an der Universität Zürich. Das schaffe keine Sprache und kein Buch. «Beim Lesen müssen wir die Texte erst decodieren. Dazu muss man zahlreiche kognitive Funktionen beherrschen, zum Beispiel Sprache verstehen, Inhalt behalten. Dabei sind andere Hirngebiete aktiv als bei der Musik.» Die Musik aber wirke direkt. «Man kann sie also nutzen, um direkt in das Gehirn der Menschen zu gelangen. Der Zuhörer kann das kaum unterbinden», sagt Lutz Jäncke.
Die klingende Manipulation funktioniert äusserst zuverlässig. 1993 wurde für eine australische Studie in einer Weinhandlung abwechselnd klassische Musik oder Pop-Musik gespielt. Erklang in den Lautsperchern des Geschäfts klassische Musik, so kauften die Kundinnen und Kunden teurere Weine als beim Pop. Für eine andere Studie kam in einem Restaurant langsame oder schnelle Musik zum Einsatz. War die Musik langsam, blieben die Gäste länger sitzen und konsumierten bis zu 40 Prozent mehr alkoholische Getränke.
So harmlos verläuft die Manipulation nicht immer. Schon die Nationalsozialisten hatten einst erkannt, dass sich mit der Musik als emotionalem Schmiermittel ihr Gedankengut unmittelbarer auf die Massen übertragen liess. Also erklärten sie Wagner und Beethoven zu Hofkomponisten des «Dritten Reichs» – und verboten umgekehrt den Swing, der Freiheitsgefühle und ein undeutsches Lebensgefühl propagiere. Und es ist kein Zufall, dass auch in Afghanistan unter den Taliban heute ein Musizierverbot herrscht. Dafür, dass Musik nichts anderes ist als ein paar schwingende Luftmoleküle, hat sie eine ziemlich durchschlagende Wirkung.
«Der Punkt ist, dass Musik kein Zufallsprodukt ist», sagt Lutz Jäncke. Sie sei auch kein natürlicher Reiz wie etwa Gerüche. Im Gegenteil: «Musik wurde geschrieben und gemacht von Komponisten. Demzufolge ist das, was als Schallwelle ungebremst auf unser Gehirn trifft, schon so konstruiert, dass es unsere Emotionen evozieren soll.» Klar, dass der Körper dementsprechend darauf reagiert: «Es erfolgt eine emotionale Erregung, die wir oft als extrem angenehm und lustvoll empfinden. Vor allem, wenn wir eine Stelle erwarten und die dann eintrifft, werden im Lustzentrum hohe Dosen des Botenstoffs Dopamin ausgeschüttet», so der Hirnforscher.
Hätte also Prousts Protagonist einst, statt seine berühmte Madeleine in Lindenblütentee zu tauchen, seine Lieblingsmusik gehört, wer weiss, ob die «Suche nach der verlorenen Zeit» komplett anders herausgekommen wäre? Überschäumender, extremer, ekstatischer?
Eruptiv wie ein Orgasmus
Denn wenn es um Musik geht, reagiert unser Körper regelmässig mit einem Ausnahmezustand. «Einen solchen eruptiven Ausstoss von Dopamin haben wir beispielsweise beim Orgasmus», so Lutz Jäncke. «Oder im Moment, wo man eine Ecstasy-Pille einnimmt. Auch im Augenblick, wenn wir uns etwas kaufen, was wir unbedingt haben wollen.»
Der Vorgang im Körper beginnt dabei immer ähnlich: Trifft eine Schallwelle aufs Ohr, wird der Schall in einen Nervenimpuls umgewandelt. Dieser wird in den Hirnstamm geleitet. Aber noch bevor die Töne ins Bewusstsein gelangen, kann über das limbische System das vegetative Nervensystem aktiviert werden, was zu Schmetterlingen im Bauch oder Gänsehaut führen kann. Danach verteilt sich der Nervenimpuls weiter in Hirnareale, die zuständig sind für Erinnerung, Motorik oder räumliche Orientierung. Ein anderer Weg führt über den Kortex. Musik wird dort interpretiert, was ebenfalls Emotionen im vegetativen Nervensystem auslöst.
Lutz Jäncke sagt: «Ich beschäftige mich seit über dreissig Jahren mit der Hirnaktivität im Zusammenhang mit Musik. Und die Emotionen, die durch Musik geweckt werden können, sind enorm.» Er hat recht: Wenn Taylor Swift singt, lösen die Fans durch ihr euphorisches Hüpfen schon einmal ein reales Erdbeben aus. Wenn Mimì in der Oper «La Bohème» stirbt, zücken auch Männer einer Generation, die niemals weint, verstohlen ihr Taschentuch. Und wer hat noch nie die Erfahrung gemacht, dass der Song, den man beim ersten Kuss hörte, plötzlich alles zurückbringt: die Gefühle, die Gerüche, die Umgebung?
«Es ist faszinierend, zu sehen, was sich gerade in solchen Situationen im Gehirn abspielt», sagt der Hirnforscher Lutz Jäncke. Denn bei Songs oder Stücken, die man mit persönlichen Erinnerungen verbindet, sind im Gehirn nicht nur die Hörareale aktiv. Auch Areale, die zuständig sind für Erinnerung, Motorik, räumliche Wahrnehmung und Visuelles laufen auf Hochtouren. Gemäss der Forschung gibt es keinen Reiz, der so viele Hirnareale gleichzeitig aktiviert wie die Musik. «Wahnsinn» ist das Wort, mit dem Lutz Jäncke das Phänomen beschreibt. Und für einmal meint er das nicht medizinisch.
Helene Fischer oder Bach? Egal.
Dabei macht es physiologisch keinen Unterschied, ob man Helene Fischer hört oder Johann Sebastian Bach. Auch könne man Musik auf sehr verschiedene Weise hören, sagt Jäncke: «Wenn wir in einen Klub gehen, hören wir Musik motorisch, wenn wir ein Stück verstehen wollen, analytisch.» Die Forschung zeige, dass dabei unterschiedliche Gehirnareale aktiv seien. Nur dass wir uns immer häufiger von Musik beschallen lassen, ohne wirklich hinzuhören, sei «für das Gehirn nicht so gewinnbringend», so der Neurowissenschafter.
Musik ist aber bei weitem nicht immer Klang gewordene Euphorie. Sie kann genauso Gefühle von Trauer, Angst oder Beklemmung auslösen. Das weiss auch die Filmindustrie. Was wäre Spielbergs «Der weisse Hai» ohne die drängend repetierten Halbtonschritte im Soundtrack? Was «Spiel mir das Lied vom Tod» ohne die unheilvoll klagende Mundharmonikamelodie? Und ohne die episch-pathetische Streicherbegleitung würde Russell Crowe am Ende von «Gladiator» bloss rücklings in den Staub der Arena fallen, statt als Maximus den Heldentod zu sterben. Musik ist der emotionale Katalysator, der solche Szenen zu emotionalen Höhepunkten macht. Umso mehr stellt sich die Frage: Wie wirkt Musik?
Sie tut es auf verschiedene Weise. Gewisse Klänge sind kulturell mit bestimmten Gefühlen assoziiert. Darum erleben wir Dur als fröhlich, Moll als traurig, Dissonanzen als unangenehm, sogar bedrohlich, Konsonanzen als entspannend. Sogar bestimmte Tonfolgen haben einen eigenen Bedeutungsstandard, so wird ein langsamer Halbtonschritt nach unten in unserer Kultur als klagend empfunden.
«Diese Koppelung von Musik mit Gefühlen haben wir unbewusst erlernt», sagt Lutz Jäncke. In anderen Kulturen funktioniere das nicht. Denn: «Unser Gehirn ist ein Interpretationsorgan. Es versucht aufgrund der bisher gesammelten Informationen Tonfolgen oder Harmonien vorherzusagen.» Wenn das nicht gelingt, wie etwa bei Musik aus anderen Kulturen, rufe das eine Irritation hervor «bis hin zu Kopfschmerzen». Umgekehrt empfinden wir Akkordfolgen als besonders angenehm, wenn sie aus einer Abfolge von Spannung und erwarteter Entspannung bestehen (wie in «I Will Survive» der amerikanischen Disco-Sängerin Gloria Gaynor).
Die musikalische Hausapotheke
Für mehr Ruhe
Messungen haben ergeben, dass sich der Puls des Publikums bei Konzerten mit dem der Musik synchronisiert. Deshalb kann Musik beruhigen – ob klassisch mit Debussys «Rêverie» und Saties «Gymnopédie» Nr. 3 oder jazzig mit Diana Kralls «Cry Me a River» sowie Calum Scotts Pop-Song «You Are the Reason»
Für die Wut im Bauch
Die beste Wutmusik kommt aus dem Barock. Grund dafür ist die damals herrschende Affektenlehre, nach der die Kunst Gefühle möglichst pur umsetzen soll. Wenn Händels Medea «Morirò, ma vendicata» singt, ist die Raserei sogar gemischt mit Trauer. Wem Blues mehr sagt als Barock, der kann sich mit Ray Charles’ «Hit the Road, Jack» in Rage hören – oder mit Pink Floyds «Another Brick in the Wall».
Für den gepflegten Weltschmerz
Es existieren genug Songs und Stücke, um sich ein ganzes Leben lang in Weltschmerz zu versetzen. Besonders schön gelingt das mit dem Song «ICU» der Französin Lou Doillon, mit «Sodade» von Cesária Évora oder dem «Andante con moto» aus dem Klaviertrio von Schubert. Wer es intensiver mag, wird mit dem «Adagio» von Samuel Barber glücklich beziehungsweise gewollt unglücklich.
Für mehr Energie
Musik mit einem zügigen Metrum wirkt aufmunternd oder vitalisierend. Je nach Bedarf gibt es fröhliche Energiespender wie «Happy» von Pharrell Williams und «Respect» von Aretha Franklin. Oder aber Songs, die den Kampfgeist wecken, wie «Rehab» von Amy Winehouse. Auch der Barockkomponist Händel hat die Wirkung einer klingenden Powerbank: Händel an (z. B. das «Allegro» aus dem «Concerto grosso» Nr. 1) – und die Energie fliesst.
Für ein Quantum Trost
Bachs Musik ist das klingende Abbild einer göttlichen Ordnung. Vielleicht deshalb vermag sie wie kaum eine andere Musik das Gefühl zu vermitteln, dass alles kommt, wie es soll. Besonders gut funktioniert das jeweils mit der «Allemande» aus den «Französischen Suiten» Nr. 2 und 3. Ebenfalls tröstlich ist «Eine gute Nachricht» von Danger Dan oder «Breaking Up» von Bnny.
Für dreimal täglich Gänsehautmomente
Sobald wir Musik als angenehm empfinden, wird im Körper Dopamin ausgeschüttet. Das kann der Fall sein bei einer Akkordfolge aus Spannung und Entspannung wie im Song «Swing Supreme» von Robbie Williams. Bei bestimmten Klängen ist der Effekt so stark, dass es zu einer Gänsehaut kommt. Adeles «Hello» kommt dafür infrage, das klassische «Nimrod» aus Elgars «Enigma-Variationen» sowie Pergolesis «Stabat Mater»
Aber es gibt sogar musikalische Muster, die instinktiv und damit global wirken. Überall auf der Welt singen Eltern ihr Neugeborenes in den Schlaf. Überall auf der Welt tun sie das mit langsamen Liedern aus einfachen, oft absteigenden Melodien, die sich wiederholen. Überall auf der Welt ist das Ergebnis dasselbe: Das Kind schläft (fast immer) ein.
Was aber ist der eigentliche Sinn von Musik? Wenn der Mensch als einzige Spezies in einer Gruppe einen Takt halten oder mit anderen zusammen singen kann, erscheint das auf den ersten Blick wie ein Instinkt ohne direkten Nutzen. Warum aber können offenbar schon Neugeborene mit ihrem Weinen Sprachmuster ihrer Mütter imitieren?
«Die Musik war, seit es den Menschen gibt, ein Mittel, um Emotionen zu synchronisieren und damit ein Gemeinschaftsgefühl hervorzurufen», sagt Lutz Jäncke. Als der Homo sapiens die Arbeitsteilung entdeckte und die Formen des menschlichen Zusammenlebens komplexer wurden, war es die Musik, die es schaffte, alle wieder in einem gemeinsamen Gefühl zu vereinen. Darum ihre Intensität. Darum die Emotionen. Und dass dabei auch noch Dopamin ausgeschüttet wird, dagegen hat nun wirklich niemand etwas einzuwenden.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»