Ennio Leanza / Keystone
Der Schneemann auf dem Scheiterhaufen sorgte am Frühlingsfest für einen Moment der Verwirrung.
Als am Montagabend um 18 Uhr der Scheiterhaufen am Sechseläuten in Brand gesetzt wird, sind viele Zuschauerinnen und Zuschauer schon einmal zufrieden. Denn seit letztem Jahr wissen sie: Es ist nicht selbstverständlich, dass der Böögg überhaupt brennen darf. Wegen starken Windes musste der Höhepunkt des Zürcher Frühlingsfestes 2024 abgesagt werden.
Bei vielen Leuten hat das für blankes Entsetzen gesorgt, das bis heute nachhallt. Auf Tele Züri erzählt der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker, dass er letztes Jahr seinen Enkel ans Sechseläuten mitgenommen habe – und wie enttäuscht dieser reagiert habe, als das grosse Feuer ausgeblieben sei.
Dieses Jahr ist es anders. Die Bedingungen sind ideal: Es ist sonnig, fast sommerlich warm – und vor allem windstill, als am Vormittag rund zwanzig Mitarbeitende von Grün Stadt Zürich Bündel um Bündel aus Holz zum Scheiterhaufen aufschichten. 7000 Stück sind es insgesamt, und auf der Spitze thront der Böögg.
Der Bööggbauer Lukas Meier hat ihm Kirschen an die Ohren gehängt, eine kleine Reminiszenz an den Gastkanton Zug. Dieser hat für das Motto seines Auftritts sämtliche Klischees humorvoll aufgenommen: Es lautet «Kirschen, Krypto und Klischees».
«Den Böögg kennt man ja vom Fernsehen»
Wobei die Kirschen am Sechseläuten in jeder Form verwertet und konsumiert werden, wie sich am Umzug zeigt. Eine junge Frau, die bei der Formation des Gastkantons mitlaufen wird, hat sich zur Stärkung einer Flasche Kirsch behändigt.
Auf dem Lindenhof sorgen die Gäste aus Zug für farbenfrohe Heiterkeit: Unter die zartblauen Werktagstrachten und die Sonntagstrachten in prachtvollem Königsblau haben sich zahlreiche Fasnächtler in roten, goldenen, orangen und grünen Gewändern gemischt. Abzeichen aus vielen Jahren und Schellen aus Messing blitzen im strahlenden Sonnenschein.
Vielen der angereisten Zuger ist das traditionsreiche Sechseläuten sympathisch – und bestens bekannt. Helen und Armin Bühler aus Hünenberg waren schon 2007 dabei, als ihr Heimatkanton letztmals zu Gast in Zürich war. Sie sind beide seit rund 35 Jahren im kantonalen Trachtenverband engagiert.
«Für meinen Kanton mitmarschieren zu dürfen, ist für mich eine besondere Freude», sagt Helen Bühler. Und setzt scherzhaft hinzu: «Den Böögg kennt man ja vom Fernsehen.»
Dass das Sechseläuten jedes Jahr so viele Menschen anzuziehen vermag, freut Armin Bühler besonders. «Fortschritt ist gut. Aber wir dürfen darüber nicht die Traditionen vergessen», sagt er. Seit der Pandemie bekundeten in Zug viele Trachtengruppen Schwierigkeiten, Nachwuchs zu rekrutieren.
Zuletzt bleibt nur ein Rest vom Kopf übrig
Um schwindende Traditionen oder deren mangelnde Beliebtheit muss sich am Sechseläuten auch in der linken Stadt Zürich niemand sorgen. Als sich um 15 Uhr der Zug der Zünfte in Bewegung setzt, säumen Tausende die Bahnhofstrasse, winken den Teilnehmern zu.
Unter den 120 Ehrengästen sind gleich vier Bundesräte, offenbar stehen an diesem Montag sonst keine wichtigen Termine in der Landesregierung an. Ignazio Cassis läuft bei der Zunft zum Weggen mit, Guy Parmelin bei der Zunft Höngg, Albert Rösti bei der Zunft zur Saffran und Martin Pfister bei der Zunft Wiedikon. Die Zuger sind stolz darauf, ihren eigenen Bundesrat an den Gastauftritt des Kantons mitgebracht zu haben.
Auch der Zürcher Stadtrat ist gut vertreten – mit Michael Baumer, Simone Brander, Daniel Leupi und Karin Rykart. «Das ist das erste Mal, dass ich ganz vorne dabei sein kann», sagt die Polizeivorsteherin. Früher sei sie noch beim 1.-Mai-Umzug mitgelaufen, «heute muss ich am 1. Mai arbeiten.» Die Polizei hat eine harte Woche vor sich mit zwei Grossereignissen. Frühlingsferien gebe es diese Woche für die meisten nicht, sagt Rykart.
Zwar ist der 1. Mai schon am Donnerstag, aber für die Feiernden am Sechseläuten weit weg. Die grosse Frage lautet: Wie lange dauert es, bis der Böögg seinen Kopf verlieren wird?
Die Antwort: recht lange.
Zwar bildet sich rasch dichter Rauch, als der Scheiterhaufen angezündet wird. Die Reiter der Zunft zum Weggen und ihre Pferde, die den Böögg als Erste umrunden, sind nicht zu beneiden.
Noch ist die Hoffnung da, dass der Kopf des Bööggs bald explodiert. Aber es wird nur der Rauch dichter, langsam schlängelt sich das Feuer hoch. Nach rund einer Viertelstunde knallen die ersten Böller. Aber der Kopf ist immer noch da. Und nach rund zwanzig Minuten bietet sich ein seltsames Bild: Der Körper des Bööggs ist weg, übrig geblieben ist nur noch der Kopf.
War’s das jetzt? Ist der grosse Knall schon durch, und hat es niemand bemerkt? In der Menge beginnen die ersten Leute verhalten zu klatschen.
Dann endlich, nach 26 Minuten und 30 Sekunden, folgt der erlösende Knall: Der Kopf ist explodiert, Jubel bricht aus. Der Sommer kann kommen, und er kann ordentlich werden, wenn man dem Volksmund glaubt: Je früher die Explosion, desto schöner der Sommer.
Was die wenigsten Zürcherinnen und Zürcher wahrhaben wollen: Leider ist auf den Böögg als Wetterfrosch wenig Verlass, wie die Statistik von Meteo Schweiz zeigt.
Zwar hat der Böögg den Hitzesommer 2003 «vorausgesagt», als der Kopf nach nur 5 Minuten und 42 Sekunden explodierte. Doch vor dem ebenfalls sehr heissen Sommer 2022 explodierte der Böögg erst nach knapp 40 Minuten – ganz klar eine Fehlprognose. Und in den Jahren 2018 sowie 2015 mit ebenfalls hohen Temperaturen lag die Brenndauer zwischen 20 und 21 Minuten.
Ausschlaggebend für ein rasches Abbrennen des Scheiterhaufens ist vielmehr das Wetter. Müssen die Arbeiter die Holzbündel bei Regen aufschichten, kann es lange dauern, bis das Feuer um sich greift. Dieses Jahr war das anders, und trotzdem hat sich der Böögg Zeit gelassen.
Aber was kümmert die Sechseläuten-Fans die Statistik, wenn das Frühlingsfest unter solch erfreulichen Bedingungen gefeiert werden kann? Nach dem grossen Knall leert sich der Platz zwar rasch. Aber für viele Zürcherinnen und Zürcher beginnt der eigentliche Höhepunkt des Festes, wenn die Massen weg sind. Sobald das Feuer nachgelassen hat und das Holz zu Glut wird, beginnt das grosse Grillieren.
Die ganz Mutigen holen die Kohle selbst aus dem Feuer, um auf kleinen Grillrosten Würste zu braten. Für viele Zürcherinnen und Zürcher ist diese Zeremonie das heimliche Highlight des Frühlingsfestes – ganz ohne Zünfterspektakel.
Es braucht nicht viel für ein perfektes Frühlingsfest.