Seit Beginn des Gaza-Kriegs führt die israelische Armee immer häufiger Razzien im Flüchtlingslager von Jenin durch. Die Radikalisierung nimmt zu. Zu Besuch an einem Ort, der von Zerstörung und Hoffnungslosigkeit geprägt ist.
Die ganze erdrückende Lebensrealität im Flüchtlingslager von Jenin hat Platz auf einem DIN-A5-Zettel. Auf dem Papier hat die 9-jährige Mesk in ordentlichen Buchstaben einen Aufsatz geschrieben. Der Titel: «Ein Tag in der Schule». «Ich habe die Alarmsirenen und danach Schüsse und Explosionen gehört. Die Direktorin sagte uns, dass wir uns unter dem Tisch verstecken sollen. Wir blieben für neun Stunden in der Schule, ohne Wasser und Essen. Ich habe zu Gott gebetet, dass es aufhört.»
Zaha Shar al-Ruk liest den Text des kleinen Mädchens mit zitternder Stimme vor. Die 47-Jährige arbeitet freiwillig im Frauenhaus des Flüchtlingslagers von Jenin. «Mesk hat den Aufsatz kurz nach der grossen Razzia der Israeli am 9. November geschrieben, 14 Menschen wurden damals getötet», sagt sie. Geschichten wie jene von Mesk höre sie in Jenin zuhauf, sagt die Erzieherin. «Der grösste Wunsch vieler Kinder hier im Flüchtlingslager ist es, ein Märtyrer zu werden.»
Für viele Palästinenser ist Jenin die Hochburg des Widerstands gegen die israelische Besetzung des Westjordanlandes. In Israel gilt das Flüchtlingslager in der Stadt im Norden des Gebiets als übles Terroristennest. Immer wieder kommt es hier zu blutigen Zusammenstössen zwischen bewaffneten Gruppen und der israelischen Armee. Attentäter aus der Region griffen in der Vergangenheit Checkpoints und israelische Siedlungen an. Seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober geht das israelische Militär mit grösserer Härte vor, die palästinensischen Anschläge nehmen zu. Die Lage im Westjordanland ist explosiv – vor allem in Jenin.
Die Kinder malen nur mit Schwarz
Es ist ein regnerischer Tag. Die meisten Strassen im Flüchtlingslager bestehen nur aus Matsch, manche gleichen kleinen Bächen. Israelische Soldaten haben den Asphalt aufgerissen. Sie vermuten darunter Sprengsätze, die Bewohner des Lagers vermuten hinter der Aktion Schikane. Die Spuren der vergangenen Militäreinsätze sind im Lager allgegenwärtig: ausgebrannte Häuser, zerschmolzene Autos, Einschusslöcher an den Fassaden, Trümmerberge.
Hier leben laut dem Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) rund 24 000 Menschen auf der Fläche von weniger als einem Quadratkilometer. Nach der israelischen Staatsgründung 1948 wurde das Lager für Palästinenser aus Haifa gegründet, die entweder geflohen oder vertrieben worden waren. Über die Jahre hat es sich in ein Quartier mit Häusern aus Beton entwickelt, direkt neben dem Stadtzentrum.
Zaha Shar al-Ruk empfängt in einem kleinen Büro im Frauenhaus des Flüchtlingslagers. Die Frau mit dem dunklen Oberteil und dem hellen Kopftuch ist in dem Lager aufgewachsen, genauso wie ihre fünf Kinder. Das Frauenhaus ist einer der wenigen Orte im Lager, wo Kinder und Frauen eine Auszeit von der tristen Realität vor der Tür erhalten sollen. Ruk kümmert sich um die Kinderbetreuung. Die Kleinen können hier am Nachmittag Theater spielen, tanzen und malen.
«Die Kinder wollen meist nur in einer Farbe malen: Schwarz», sagt Ruk. Daher hat die Frau ihnen schwarzes Papier gegeben, so müssen sie Buntstifte verwenden. In einem Nebenraum sind die Werke aufgehängt. Auf den ersten Blick unterscheiden sie sich nicht von anderen Kinderbildern. Doch in Jenin malen die Jüngsten auch das, was sie täglich auf der Strasse sehen: Panzersperren, palästinensische Flaggen, ein Gewehr. «Es ist schon oft vorgekommen, dass wir mit den Kindern im Gebäude eingeschlossen waren, als die israelische Armee Razzien durchgeführt hat», sagt Ruk. «Wir arbeiten hier unter extremem Stress.»
Israel greift offenbar nicht nur militärisch relevante Ziele an
In dem Flüchtlingslager kann jeder eine Geschichte von den israelischen Razzien erzählen – und wie sie in den vergangenen Wochen zugenommen haben. Es gibt auch Hinweise, dass die israelischen Soldaten seit dem Kriegsausbruch in Gaza nicht ausschliesslich militärisch relevante Ziele angreifen. So wurden alle Denkmäler im Lager zerstört, etwa die Statue am «Kreisverkehr der Rückkehr». Sie erinnerte an die ursprüngliche Heimat der ersten Flüchtlinge im Lager, die Stadt Haifa im heutigen Norden Israels.
Auch in das Freedom Theater, einen der wenigen kulturellen Orte im Flüchtlingslager, drangen die israelischen Soldaten ein. Zerborstene Fensterscheiben zeugen von dem Einsatz. Auf die Leinwand des Theaters haben die Soldaten einen riesigen Davidstern gesprüht, Filme können hier nicht mehr gezeigt werden. Normalerweise ist am Wochenende viel Betrieb im Theater, an diesem Samstag ist es leer.
In einem Coiffeursalon einige Meter weiter haben sich fünf Männer versammelt, um zu rauchen und sich auszutauschen. Auf dem Fernseher in der Ecke läuft al-Jazeera, die Ruinen von Gaza flackern im Hintergrund. Jeder der Anwesenden kann von Angriffen der israelischen Armee berichten, in die er oder Bekannte verwickelt waren. Der 42-jährige Coiffeur Raed Lakhlur zieht als Beweis seinen Pullover hoch, unter dem sich grosse Narben verbergen. Er wurde bei einem Schusswechsel zwischen militanten Palästinensern und der israelischen Armee im Januar 2023 verletzt, fast wäre er gestorben.
Das ausgebrannte Haus des Mandolinenspielers
Einer der Männer ist ganz ruhig, bis er mit einem Wink andeutet, dass er etwas erzählen will. Jamal Lakhlu tritt aus dem Salon, geht wenige Schritte und deutet auf die Fassade des ausgebrannten Hauses auf der anderen Strassenseite: «Hier habe ich gelebt.» Sein Haus wurde im vergangenen Juli zerstört, als über tausend israelische Soldaten in Jenin die grösste Militäroperation seit der zweiten Intifada durchführten. Im Inneren ist alles verbrannt, der Boden ist von Schrott und Trümmern übersät, durch grosse Löcher im Beton kann man in die Zimmer hineinschauen.
Auf der anderen Strassenseite habe sich ein Scharfschütze befunden und Soldaten mit Panzerfäusten, sagt der 57-Jährige. «Wir waren oben und haben die Hochzeitszeremonie für meinen Sohn und seine Verlobte vorbereitet», erzählt Lakhlu in dem Raum, der einmal seine Küche war. «Wir haben von einem israelischen Luftangriff in der Nähe gehört und sind aus dem Haus geflohen. Das war unser Glück.»
Seit Juli lebt er mit seiner ganzen Familie in einer kleinen Wohnung in der Stadt, ausserhalb des Flüchtlingslagers. «Eines Tages ziehen wir hierhin zurück, so Gott will», sagt er. Doch bis jetzt fehlt ihm das Geld, die Reparatur seines Hauses hat er noch nicht begonnen. Lakhlu ist Musiker, seit knapp 40 Jahren spielt er die Mandoline. Mit seinem Orchester sei er bereits in Israel, Jordanien und den Emiraten aufgetreten.
Im oberen Stockwerk liegt das, was von seiner Mandoline übrig geblieben ist. Lakhlu schaut traurig auf den verkohlten Koffer und sein Instrument, dem einige Saiten fehlen und dessen Spitze geborsten ist. «Die Mandoline hat 5000 Schekel gekostet», sagt er. Die umgerechnet 1200 Franken hat Lakhlu nicht. «Ich weiss nicht, wann ich wieder spielen werde.»
Warum die israelische Armee sein Haus angegriffen hat, weiss der Mann mit den angegrauten Haaren ebenfalls nicht. «Was habe ich getan, um so etwas zu verdienen?», fragt er. «Wir sind normale Menschen und wollen einfach nur ein Leben in Frieden führen.»
Für die Bewohner des Flüchtlingslagers von Jenin sind Geschichten wie jene von Lakhlu Zeugnis der himmelschreienden Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt sind. Für die Israeli sind die Einsätze eine Notwendigkeit und Schäden an den Häusern Unbeteiligter unvermeidbare «Kollateralschäden».
«Seit dem Massaker vom 7. Oktober haben die Terrorattacken in Judäa und Samaria signifikant zugenommen», erklärt die israelische Armee auf Anfrage. Über 847 geplante Attacken hat die Armee seit Kriegsbeginn im Westjordanland registriert, das sie gemäss der biblischen Überlieferung Judäa und Samaria nennt. «Die Armee unternimmt nächtliche Anti-Terror-Einsätze, um Verdächtige festzunehmen, die oftmals der Hamas angehören», teilt ein Sprecher mit.
Laut der UNRWA hat die israelische Armee zwischen dem 7. Oktober und dem 18. März 47 Einsätze im Flüchtlingslager von Jenin durchgeführt, 45 Menschen wurden dabei getötet. Vor dem 7. Oktober kamen die israelischen Soldaten etwa einmal die Woche in das Lager, seit Kriegsausbruch rund doppelt so oft. Viele der Getöteten sind gesuchte Terroristen, allerdings starben auch Zivilisten.
Der grinsende Werber der Hamas
Wer auch nur einen Tag im Flüchtlingslager von Jenin verbringt, kann verstehen, weshalb die israelische Armee so häufig zu Einsätzen anrückt. Auf den Strassen laufen junge Männer ungestört mit umgehängten Sturmgewehren herum, von vielen der Passanten werden sie freundlich gegrüsst. Im ganzen Lager sind grosse Fotos von sogenannten Märtyrern aufgehängt – Terroristen des Islamischen Jihad, der Hamas oder der lokalen Jenin-Brigaden, die von den Israeli getötet wurden.
Dass viele der Jüngeren hier zu ihnen aufsehen, ist nicht verwunderlich. Es gibt kaum Perspektiven in Jenin – vor allem seit dem Ausbruch des Gaza-Kriegs. Laut der lokalen Handelskammer sind die wichtigsten Stützen der Wirtschaft arabische Israeli, die zum Einkaufen kommen, und Palästinenser, die zum Arbeiten nach Israel gehen. Beide Quellen sind seit dem 7. Oktober versiegt. «Jährlich registrieren wir rund 3,6 Millionen Besuche aus Israel, wir rechnen mit 100 Dollar Umsatz pro Besuch», sagt Mohammed Kamil, der Chef der Handelskammer, in seinem Büro ausserhalb des Flüchtlingslagers. «Das heisst, seit Kriegsbeginn hat Jenin allein dadurch Einbussen in Höhe von 150 Millionen Dollar zu verzeichnen.»
Die Wirtschaft in Jenin stehe vor dem Kollaps, doch die Terrorgruppen erhielten weiterhin finanzielle Unterstützung, heisst es im Flüchtlingslager. Meist komme das Geld aus Iran. «Die Arbeitslosenquote liegt hier derzeit bei etwa 55 Prozent», sagt Mohammed Kamil. «Die Menschen verlieren Tag für Tag mehr von ihrer Lebensgrundlage – und wenn sie nichts mehr zu verlieren haben, werden sie nicht friedlich reagieren.»
Ein Profiteur dieser Situation ist ein Mann, der sich Abu Abed nennt. Mit zwei seiner Mitstreiter kommt der 26-Jährige am späten Nachmittag über den Matschweg im Flüchtlingslager geschlendert. Sein umgehängtes Gewehr wippt im Takt seines Ganges. Lächelnd reicht er die Hand, äusserlich ist der junge Mann mit dem runden Gesicht und dem Vollbart die Ruhe in Person. Bereitwillig erzählt er von seinen Ansichten, nur fotografiert werden möchte er nicht.
«Wir alle hier werden von Sinwar repräsentiert», sagt Abu Abed. Er ist ein stolzer Anhänger der Hamas, die in Gaza von Yahya Sinwar geführt wird, dem für das Massaker vom 7. Oktober Hauptverantwortlichen. Hier im Flüchtlingslager ist Abu Abed der Werber für die Terrorgruppe: Seine Aufgabe ist es, neue Mitglieder zu rekrutieren. «Seit dem 7. Oktober ist mein Job einfacher geworden», sagt er grinsend. «Unzählige sind der Hamas beigetreten.»
Es dämmert, und Abu Abed dreht weiter seine Runden neben den zerstörten Häusern. Es hat den Anschein, als sei er der einzige Mensch im Flüchtlingslager von Jenin, der mit der gegenwärtigen Situation vollkommen zufrieden ist.