Israel hat einen hochrangigen Hizbullah-Kommandanten getötet, kurz darauf fiel Ismail Haniya in Teheran einem Anschlag zum Opfer und die israelische Armee bestätigte den Tod von Hamas-Militärchef Mohammed Deif. Ein Gegenschlag Irans scheint unausweichlich. Und ein grosser Krieg ist nicht ausgeschlossen.
Noch ist alles beim Alten in Tel Aviv. Am Mittwochabend sitzen die Menschen im Ausgehviertel Jaffa in der Hitze auf der Strasse und trinken Bier, während sie einer Live-Band zuhören. Die Stimmung ist gut, und keinem hier ist die Anspannung anzumerken. Knapp 24 Stunden zuvor hat Israel Fuad Shukr, ein Gründungsmitglied der libanesischen Hizbullah-Miliz, im Süden von Beirut getötet. Kurz darauf fiel der Hamas-Chef Ismail Haniya in Teheran einem Anschlag zum Opfer.
Am Donnerstag konnte die israelische Armee zudem einen weiteren Erfolg vermelden: Sie erklärte Mohammed Deif, den obersten Befehlshaber des militärischen Arms der Hamas, für tot. Deif wurde am 13. Juli bei einem Bombardement im südlichen Gazastreifen getötet.
Für die Tötung von Haniya übernahm Israel keine offizielle Verantwortung, doch es ist nahezu sicher, dass die Regierung in Jerusalem hinter dem Attentat steckt. Das Regime in Teheran drohte bereits Vergeltung an: Am Mittwochabend meldete die «New York Times» unter Berufung auf drei hochrangige iranische Regierungsquellen, dass Irans Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei einen direkten Angriff auf Israel befohlen habe.
Zudem ist ausgemacht, dass der von Iran unterstützte Hizbullah die Tötung von Fuad Shukr nicht unbeantwortet lassen wird. Israel hat den hochrangigen Hizbullah-Kommandanten mitten im Schiitenviertel Dahiye getötet, einer Hochburg des Hizbullah im Süden von Beirut. Nach der Logik von Schlag und Gegenschlag müsste die Schiitenmiliz nun ebenfalls ein Ziel in einer grossen israelischen Stadt angreifen – etwa in Tel Aviv.
Schon vor der Tötung von Shukr und Haniya war die Gefahr gross, dass der Konflikt zwischen Israel und dem Hizbullah an der israelisch-libanesischen Grenze eskaliert. Jetzt ist der gesamte Nahe Osten einen Schritt näher an einem grossen regionalen Krieg – die nächste Tage entscheiden darüber, ob eine Eskalation noch abgewendet werden kann.
Ein direkter Angriff aus Iran ist zu erwarten
Es sei davon auszugehen, dass Teheran mit einem direkten Angriff aus Iran auf die Tötung von Ismail Haniya reagieren werde, sagt Danny Citrinowicz, Iran-Experte der israelischen Denkfabrik Institute for National Security Studies. «Selbst wenn der Hizbullah mit einem grossen Gegenschlag antwortet, wird Iran trotzdem einen eigenen Angriff starten müssen», sagt Citrinowicz. «Sollte Iran nur seine Stellvertreter vorschicken, würde es als schwach dastehen.»
Auch Amos Yadlin, der ehemalige Chef des israelischen Militärgeheimdiensts, schliesst einen direkten Angriff Irans nicht aus. «Wir müssen auf alles gefasst sein», sagte Yadlin am Mittwoch.
Citrinowicz geht davon aus, dass Iran in ähnlicher Weise wie am 14. April reagieren wird, als das Regime erstmals Israel direkt mit Drohnen und Raketen angriff. «Der 14. April hat alles verändert, denn Iran hat ein Tabu gebrochen», sagt Citrinowicz. «Nun ist dieser Angriff die Messlatte für Teheran.» Die Tötung von Haniya in Teheran sei eine Demütigung für Iran. Es stehe daher ausser Frage, dass Iran mit aller Härte zurückschlagen müsse.
Obwohl der direkte Angriff auf Israel Mitte April als Vorbild dient, geht Citrinowicz nicht davon aus, dass Teheran sich dieses Mal wieder mehrere Tage Zeit lässt, bis es zurückschlägt. «Wenn man so lange wartet, gibt man der Gegenseite Zeit, sich auf den Angriff einzustellen, nur deswegen konnte Israel die Raketen im April so gut abwehren», sagt der Iran-Experte. «Ich glaube, dass die Antwort Irans dieses Mal schneller kommen wird.»
«Der Hizbullah nimmt das Risiko eines Kriegs in Kauf»
Es ist davon auszugehen, dass Iran seine Antwort auf die Tötung Haniyas in Teheran mit dem Hizbullah koordiniert. Die Schiitenmiliz in Libanon gilt als Kronjuwel in der «Achse des Widerstands», jenem Milizen-Netzwerk, das Teheran im gesamten Nahen Osten aufgebaut hat.
Organisationen wie der Hizbullah müssten mit aller Härte zurückschlagen, um die Abschreckungsbalance wieder herzustellen, sagt Citrinowicz. «Denn aus ihrer Sicht ist es so: Wenn der Hizbullah jetzt nicht mit aller Härte auf die Tötung von Fuad Shukr antwortet, könnte sein Chef, Hassan Nasrallah, als nächstes dran sein.»
«Der Hizbullah will weiterhin keinen grossen Krieg mit Israel, weil dies nur seinen eigenen Status in Libanon gefährden würde», meint Citrinowicz. «Aber er nimmt das Risiko eines Regionalkriegs in Kauf, wenn er damit die Abschreckung wiederherstellen kann.»
Der Krieg in Gaza wird genauso fortgesetzt
Momentan steht für Israel die Bedrohung aus Iran und Libanon im Vordergrund, doch der Krieg im Gazastreifen geht unvermindert weiter. Der Tod von Haniya werde diesen nicht wesentlich beeinflussen, meint Michael Milshtein, der ehemalige Leiter der Palästinenserabteilung im israelischen Militärgeheimdienst.
«Haniya hatte für die Hamas vor allem einen symbolischen Wert, keinen funktionellen», sagt Mihlstein. Anders sei es bei dem militärischen Führer Mohammed Deif. «Deif war sehr viel wichtiger für die Hamas – und er wird sehr viel schwieriger zu ersetzen sein als Haniya.» Der Politbüro-Chef war vor allem für die diplomatischen Aktivitäten der Hamas zuständig, während Deif die militärischen Operationen der Terrororganisation plante. Aller Wahrscheinlichkeit folgt auf Haniya an der Spitze des Politbüros sein Vorgänger Khaled Mashal, der wie Haniya vorwiegend im Exil in Katar lebt.
Die Hamas werde den Krieg im Gazastreifen auch nach dem Tod von Haniya fortsetzen können, sagt Milshtein. Die militärischen Fähigkeiten der Islamisten scheinen allerdings stark reduziert: Nach der Tötung Haniyas schoss die Terrororganisation keine Raketen auf Israel ab.
Was bedeutet Haniyas Tod für ein Geiselabkommen?
In Israel besteht allerdings die Sorge, dass die Tötung Haniyas die ohnehin stockenden Verhandlungen über ein Geiselabkommen zum Erliegen bringt. Diese gerieten vor wenigen Tagen abermals in die Krise, als Israel neue Forderungen stellte.
So forderte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, dass Israel Abschnitte des Gazastreifens auch während eines Waffenstillstands besetzt halten dürfe. Michael Milshtein glaubt nicht, dass die Tötung Haniyas die Verhandlungen massgeblich beeinflussen wird. Das Problem seien vielmehr die neuen israelischen Bedingungen, die für die militanten Palästinenser inakzeptabel seien.
Sollten die Verhandlungen wieder Fahrt aufnehmen, könnte das auch die Spannungen an Israels Nordgrenze entschärfen. Der Hizbullah hat bereits angekündigt, seine Angriffe einzustellen, sobald in Gaza die Waffen schweigen. Ein Waffenstillstand im Gazastreifen und eine Rückkehr der Geiseln bleiben daher der Schlüssel, um den gesamten Nahen Osten zu stabilisieren.