Der Krieg im Gazastreifen und der internationale Druck haben zu Israels Zurückhaltung beigetragen. Ein Waffengang mit der Islamischen Republik bleibt nicht ausgeschlossen.
Der grosse Krieg in Nahost scheint einstweilig abgewendet. Am Freitag griff mutmasslich Israel eine iranische Luftwaffenbasis an – und danach schwiegen die Waffen. Iran spielte die Attacke herunter und sah am Wochenende keinen Grund für eine weitere Antwort. Am Sonntag dankte Irans oberster Führer, Ali Khamenei, den iranischen Streitkräften für ihren vorangegangenen Angriff auf Israel. Den Gegenschlag erwähnte er nicht.
Am 14. April hatte das Regime in Teheran erstmals von seinem eigenen Territorium Israel mit über 300 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen attackiert. 99 Prozent der Geschosse wurden abgewehrt. Inmitten des Gaza-Kriegs standen das atomar gerüstete Israel und die Beinahe-Atommacht Iran kurz vor einem offenen Konflikt.
Laut der «New York Times» hat Israel am Freitag nahe der Stadt Natanz in Zentraliran ein Flugabwehrsystem beschädigt. Israel soll laut westlichen und iranischen Beamten Drohnen sowie mindestens eine Rakete eingesetzt haben, die von einem Kampfflugzeug abgeschossen wurde. Im Vergleich zu den Drohnen- und Raketenschwärmen, die Iran abschoss, war die israelische Vergeltung moderat. Weshalb hat Israel die Eskalation mit der Islamischen Republik gescheut?
Gazastreifen bleibt die erste Priorität
«Israel hat genug um die Ohren», sagt Efraim Inbar der NZZ. Israel führe momentan einen offenen Krieg an zwei Fronten – im Gazastreifen und im Norden gegen den Hizbullah. Hinzu kämen neue Spannungen im Westjordanland, sagt der Leiter des Jerusalem-Instituts für Strategie und Sicherheit. «Deshalb hat die Regierung den iranischen Angriff so zurückhaltend vergolten.»
Für Israel haben der Krieg gegen die Hamas und die Freilassung der verbleibenden Geiseln immer noch die höchste Priorität. Um die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören, bereitet die Regierung seit Wochen eine Offensive auf Rafah vor. In der Stadt im Süden des Gazastreifens haben rund 1,5 Millionen Zivilisten Schutz gesucht – und hier halten sich laut israelischen Angaben auch die letzten vier Bataillone der Hamas auf. Die USA haben vor einer Militäroperation gewarnt, um eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden.
Im Windschatten der Iran-Krise liefen die Vorbereitungen für eine Invasion von Rafah indes weiter. Am Tag nach dem iranischen Angriff wurden zwei zusätzliche Brigaden der israelischen Streitkräfte für «operative Aktivitäten» an der Front im Gazastreifen mobilisiert. Am vergangenen Montag traf Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant hochrangige Militärs, um die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Rafah vorzubereiten, wie sein Büro mitteilte.
Dies könnte ebenfalls den Ausschlag für eine zurückhaltende Reaktion gegeben haben, meint Efraim Inbar. «Ich denke, dass es eine Übereinkunft zwischen den USA und Israel gegeben hat: Israel reagiert moderat, und dafür bekommt es von den Amerikanern mehr Bewegungsspielraum im Gazastreifen.»
Ohne die Partner geht es nicht
Präsident Joe Biden hat sehr früh klargemacht, dass die USA einen Schlag gegen Iran nicht unterstützen werden. «Allein kann Israel keinen Krieg gegen Iran führen», sagt der Iran-Experte Eldad Shavit vom Institute for National Security Studies in Tel Aviv im Gespräch. «Israel braucht dafür die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und vor allem der USA. Das ist momentan nicht der Fall.»
Der iranische Angriff hat zudem gezeigt, dass Israel sich neben den USA auf weitere Partner in Europa und der Region verlassen kann. Selbst das arabische Nachbarland Jordanien schoss iranische Drohnen über seinem Luftraum ab. Diese fragile Allianz wäre möglicherweise zerbrochen, hätte Israel einen Regionalkrieg provoziert. Für Israel ist die Unterstützung aus der Region ein strategischer Vorteil in der Konfrontation mit Iran, den es nicht verspielen will.
Israel hat das iranische Atomprogramm im Blick
Trotzdem hat der Gegenschlag der Israeli demonstriert: Ein Krieg zwischen Iran und Israel ist nicht ausgeschlossen. Denn Israel hat nicht irgendwo angegriffen. Die beschädigte Verteidigungsanlage befindet sich in Natanz. Dort steht auch eine Nuklearanlage, die laut Experten eine wesentliche Rolle bei der Anreicherung von waffenfähigem Uran spielt.
Mit dem Schlag sendet Israel eine klare Botschaft an Iran. Die Attacke ist ein symbolischer Warnschuss: Die Regierung in Jerusalem hat das iranische Atomprogramm immer noch genau im Blick und wird nicht zulassen, dass Teheran die Bombe erhält.
Solange Iran keine offizielle Atommacht ist, gehen israelische Sicherheitsexperten davon aus, dass beide Parteien zum sogenannten Schattenkrieg zurückkehren. Gleichwohl ist das Eskalationsrisiko nun weitaus höher, nachdem Iran das Tabu des direkten Angriffs vom eigenen Territorium aus gebrochen hat. Die Kalkulation könnte sich allerdings ändern, sobald es einen klaren Beweis dafür gebe, dass Iran sein Nuklearprogramm militärisch nutze, meint Eldad Shavit. «Dann könnte Israel sagen: ‹Genug ist genug›, und einen Krieg riskieren.»
Die Frage ist nur, ob es dann nicht schon zu spät ist – oder ob der Zeitpunkt für Israels Präventivschlag schon bald gekommen ist. David Albright, früherer Inspektor der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), geht davon aus, dass Iran in sechs Monaten eine sogenannte rohe Bombe herstellen kann, die auf einer ballistischen Rakete verschossen werden kann.