Die spanische Stadt steht unter Schock, nachdem dort zehn Bewohner in einem brennenden Wohnkomplex ums Leben gekommen sind. Wurden die Vorschriften im letzten Bauboom eingehalten? Das fragen sich jetzt viele.
Pepa García* wohnt in Valencia weit weg vom Neubauviertel Campanar, wo beim Grossbrand eines Wohnkomplexes am Donnerstag zehn Menschen ums Leben gekommen sind und 135 Familien binnen einer Stunde ihr Hab und Gut verloren haben. Auch die 49-Jährige träumte früher davon, in eines der luxuriösen Hochhäuser zu ziehen, in deren Fassade sich die Sonne spiegelt und in deren Grünanlage ein Gemeinschaftspool lockt. Doch nun ist sie froh, dass sie in der Altstadt von Valencia wohnen geblieben ist.
«Das ausgebrannte Gebäude sah von aussen sehr elegant aus», sagt García. Die Wohnungen wurden seinerzeit als qualitativ hochwertige Objekte mit allem Komfort verkauft. «Die Menschen achteten vor allem auf die Ästhetik und vertrauten den Bauherren einfach», erklärt der Journalist Jesús Cintora auf Youtube.
Mit dem Bau des Unglückskomplexes wurde 2006 begonnen, in einem Jahr, als auf der Iberischen Halbinsel fast 800 000 Wohnungen hochgezogen wurden, mehr als in Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Und Valencia war eines der Zentren des Baubooms, die Gier nach dem schnellen Geld dominierte damals alles.
Aussenfassade mit brennbaren Materialien verkleidet
Die Fassade des betroffenen Komplexes wurde mit Platten verkleidet, die den höchsten gestalterischen Ansprüchen genügten, wie im Werbevideo damals angepriesen. Doch genau diese Verkleidung entpuppte sich als fataler Brandbeschleuniger, denn sie enthielt Polyethylen (PE). Die Schmelze dieses thermoplastischen Kunststoffs wirkte wie eine Lunte, die das Gebäude binnen weniger Minuten in Feuer hüllte, wie die valencianische Tageszeitung «Las Provincias» schreibt. An der Aussenfassade kam auch Steinwolle zum Einsatz, die normalerweise bis zu tausend Grad Celsius aushält. Das Problem beim Brand im Viertel Campanar sei gewesen, dass diese Temperatur wegen der starken Windböen an diesem Abend überschritten worden sei, so «Las Provincias».
Valencia ist in einer Art Schockstarre. Drei Tage Trauer sind angesetzt, die Mascletà, das traditionelle Feuerwerkspektakel im Vorfeld des Frühlingsfestes Fallas, wurde am Sontag abgesagt. «Wir Valencianer wachsen mit diesem Spektakel auf und lieben eigentlich den Geruch von Rauch und Pulver, aber uns ist diese unschuldige Freude gründlich vergangen», so García.
Lange herrschten laxe Vorschriften
Das hätte alles nicht passieren dürfen. Nach dem verheerenden Brand des Grenfell Tower in London, bei dem vor sieben Jahren 72 Menschen ums Leben gekommen waren, hat auch Spanien die bis dato zu laxen Bauvorschriften geändert. Seit 2019 dürfen bei der Verkleidung von Hochhäusern nur brandresistente Materialien verwendet werden. Doch im Jahr 2006, als das nun ausgebrannte, vierzehnstöckige Hochhaus in Valencia errichtet wurde, galten diese Vorschriften noch nicht.
Das zehnstöckige Nebengebäude, das durch einen Panoramalift vom Hauptgebäude abgetrennt war, brannte ebenfalls aus. Dabei hatten Brandschutzexperten schon nach der Grenfell-Katastrophe davor gewarnt, dass PE brennbar sei und gefährliche «Brandbrücken» bilden könne. Im Fall von Valencia löste die PE-Schmelze einen Feuerregen aus, der nicht mehr zu stoppen war, geschweige denn zu löschen. Ein weiterer Brandbeschleuniger könnten die speziellen Harze gewesen sein, mit denen die Steinwolle getränkt waren, wie eine Expertin der Zeitung «Sur» sagte. Nur durch die Kühlung der Fassade konnten die Feuerwehrleute ein junges Paar aus Belgien retten, das in steigender Hitze von einem Balkon auf den anderen klettern musste. Sie sind die neuen Helden Valencias, in den sozialen Netzwerken feiert man ihre spektakuläre Rettung per Feuerwehrkran.
Die grosse Angst ist nun, dass sich die Katastrophe in Valencia wiederholen könnte. García arbeitet als Verkäuferin im Corte Inglés in der Avenida de Francia, wo einige ähnliche, möglicherweise mit den gleichen Materialien verkleidete Gebäudekomplexe stehen. Jetzt sollen alle Hochhäuser in Valencia überprüft werden. Laut den Daten der Feuerwehr gibt es mehr als einhundert Gebäude mit mehr als fünfzehn Stockwerken. In dieser Feuerwehrliste ist die ausgebrannte Immobilie aber noch nicht einmal enthalten, weil sie nur vierzehn Stockwerke hatte. Entsprechend hatten die Experten bei der Löschung des Brandes auch keine Daten, auf die sie zurückgreifen konnten.
Immer mehr Menschen stellen die Frage nach dem Schuldigen, doch vom zuständigen Bauunternehmen FBEX gibt es keine Antworten mehr. Die Firma ging zwei Jahre nach dem Platzen der Immobilienblase 2008 in Konkurs. Die Gläubigerbanken übernahmen die Immobilie und verkauften die meisten der Wohnungen an betuchte Ausländer.
Der ausgebrannte Koloss sei stabil und nicht einsturzgefährdet, sagen die Experten. Eine andere Frage ist, was mit ihm geschehen soll. Das Skelett des Grenfell Tower in London ragt nach sieben Jahren noch immer in den Himmel. Es wurde mit einer weissen Plane bedeckt, auf der ein riesiges grünes Herz prangt.
* Name von der Red. geändert.