Biel hat die Position des Nonbinären zum Prinzip erhoben: Notizen zur Nemo-Hauptstadt.
An diesem Wochenende des Eurovision Song Contests wurde Biel, die Heimatstadt von Nemo, in transeuropäische Zusammenhänge gerückt – und man kann dem Stadtpräsidenten nicht vorwerfen, er habe den Moment nicht genutzt. Es war später Sonntagabend, und Nemo gab nach seiner Rückreise aus Malmö eine Pressekonferenz in Zürich, da meldete Erich Fehr die Ansprüche seiner Stadt an.
«Ist Biel noch im Rennen?», fragte Nemo, als der Unterhaltungschef des Schweizer Fernsehens über mögliche Austragungsorte des ESC 2025 in der Schweiz sprach.
«Klar!», rief jemand aus dem Publikum. Es war Erich Fehr, der Stadtpräsident.
Er durfte dann kurz nach vorne kommen, zu den Mikrofonen, ins Licht. Er trug den Pin seiner Stadt am Revers, und er sah sehr stolz aus. «Nemo ist sensationell», sagte Fehr, «und Nemo sagt immer auch: ‹Ich bin Biel.› Das freut uns ganz besonders.» Fehr vergass auch nicht, den Slogan seiner Stadt zu platzieren: «Ici c’est Bienne!» Dann sagte er, mindestens die Opening Session des nächsten Eurovision Song Contests müsse in Biel stattfinden – und weil es ihm gerade so gut lief, setzte er am Ende noch eine Pointe. Man suche einen starken Partner, zum Beispiel Bern. «Zürich ist naheliegend.» Kunstpause. «Aber nicht zwingend.»
In der Nacht davor hatte eine Reporterin des «Bieler Tagblatts» einen grossen Auftritt. Sie war nach Malmö gereist, um Nemo nach dem grossen Sieg «als erste Journalistin» zu befragen. Und sie nutzte die Gelegenheit, um zu sagen, wie «unglaublich stolz» Biel sei. Nemo erklärte: «An alle, die daheim in Biel zugeschaut haben – in einer Stadt so voller Kreativität; wo Leute, die anders sind, als etwas Gutes gesehen werden – ich schicke euch so viel Liebe!» Die Bieler Reporterin meldete in die Heimat: «Auch mitten in der Nacht denkt Nemo an Biel.»
Das Gefühl dieser Tage: Biel wird weltberühmt.
Die Dazwischen-Stadt
Biel ist nicht nur die Heimatstadt von Nemo, sondern auch die Nemo-Hauptstadt. Es kann kein Zufall sein, dass diese Stadt berühmt wird durch einen nonbinären Star. In Biel ist vieles möglich – was in der Geschichte begründet liegt: Es war lange ein Dorf, wurde erst spät zur Stadt. Einen Adel gibt es deshalb nicht. Hier kann auch ein Niemand (lateinisch nemo) immer jemand werden.
Biel hat die Position des Nonbinären, zwischen deutscher und französischer Sprache, zwischen bernischen und jurassischen Einflüssen, inzwischen zum Prinzip erhoben. Der neuen Stadtordnung ist eine Präambel vorangestellt, in der Biel als eine Stadt beschrieben wird, «die nicht Hauptstadt sein muss». Biel ist eine Dazwischen-Stadt. «Biel muss nicht. Biel darf, kann und soll.» Eine Stadträtin der SVP hatte sich dafür eingesetzt, dass die Zeile «Biel muss nicht» gestrichen wird. Sie fand, das klinge nach Rebellion. Natürlich blieb die Zeile in der Stadtordnung stehen.
Revolution, Revolution – kurze Geschichte von Biel
Bevor Biel berühmt wurde, war es berüchtigt. Es gab immer Platz für alles: In den 1960er und 1970er Jahren entstand hier eines der schweizweit ersten autonomen Jugendzentren – es steht bis heute. Die Zeiten waren wild. Hotcha, ein stadtbekannter Musiker, sagte einmal: «Irgendwann ging immer die Musik an, und einer sang: ‹Revolution, Revolution.›» Und im Café Odéon an der Bahnhofstrasse traf sich eine ganz eigene Geisteselite, wie sich der bekannte Journalist Peter Rothenbühler in seiner Biografie erinnert: «Aus der Pfarrfamilie kam ich also unter die Zöllner und Huren, wie Jesus gesagt hätte: Künstler, Musiker, Schriftsteller, Politiker aller Couleur, Anwälte, Uhrenhändler und Uhrenschieber, (. . .) ja sogar ein ‹Umgebauter› gehörten zur Stammkundschaft.»
In den 1980er und den 1990er Jahren wurde die Stadt durch eine schwere Wirtschaftskrise gezeichnet – bis heute taucht sie in Schulden-, in Sozialhilfe-, in Kriminalitätsstatistiken vorne auf. Gleichzeitig hat sich Biel immer wieder gegen Grossprojekte der Aufwertung gewehrt, gegen eine Autobahn, gegen eine Überbauung am See. Biel ist tief verschuldet, aber in Biel gibt es günstigen Freiraum. Die Stadt verwünscht diesen Ruf, und sie lebt von ihm.
Erich Fehr, der Stadtpräsident, hat einmal gesagt: «Natürlich lebt Biel auch davon, etwas Unfertiges zu haben. Bei uns ist nicht immer alles gepützerlet, das ist hier keine Swiss-Miniature-Veranstaltung.» Aber er sagt auch: «Biel ist nur möglich mit einer guten Durchmischung, und dazu gehören auch gute Steuerzahler. Gehen Sie nach Zug, wo es nur Reiche gibt, das ist nicht lustig. Aber nur Arme, das ist auch eine Ghettoisierung.»
Wer über Biel spricht, ist es gewohnt, die Widersprüche nebeneinander stehen zu lassen – sie lassen sich nicht auflösen. Vielleicht ist es sogar so, dass erst aus diesen Widersprüchen die spezifisch bielerische Kreativität erwächst, über die man in der Stadt gerne spricht.
Doch nicht Biel?
Im nächsten Jahr, wenn der Eurovision Song Contest in der Schweiz ausgetragen wird, wäre Biel gerne eine Art Hauptstadt, auch wenn es sonst eine Dazwischen-Stadt ist. Das ist der Anspruch, den der Stadtpräsident in der Sonntagnacht formulierte. Am Montag hiess es aber bereits, wer den ESC wolle, müsse viel dafür bezahlen. Im Internet wurde über Zürich, Bern, Basel, Genf oder St. Gallen spekuliert.
Biel rückte in diesen Berichten, je länger der Tag dauerte, desto mehr zwischen die Zeilen.