Aufnahme vom 8. Dezember 2023. Bild Tomas van Houtryve / VII
Die Notre-Dame wirkt nach dem Wiederaufbau heller, luftiger, lichter denn je. Wie gotische Architektur immateriell wird, lässt sich hier erleben.
Die Bilder des einstürzenden Vierungsturms über dem brennenden Dachstuhl von Notre-Dame in Paris haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nicht nur in das Bildgedächtnis der französischen Hauptstadt, nicht nur in jenes Frankreichs, sondern in dasjenige der Menschheit.
Es handelte sich bei der Pariser Brandkatastrophe der Nacht des 15. auf den 16. April 2019 nicht – wie zunächst befürchtet – um einen Terroranschlag oder vorsätzliche Brandstiftung. Was genau das Feuer ausgelöst hat, liess sich bislang nicht ermitteln; vielleicht ein Kurzschluss, vielleicht eine achtlos weggeworfene Zigarette. Um 18 Uhr 20 war der erste Feueralarm ausgelöst worden, um 19 Uhr 56 kollabierte der Vierungsturm und zerschlug Teile der Gewölbe.
Auf Basis von Drohnenaufnahmen gelang es der Feuerwehr, den Überschlag des Feuers vom lichterloh brennenden Dachstuhl auf die Westtürme zu verhindern. Als der Rauch am nächsten Tag verzogen war, zeigte sich, dass ausser dem eingestürzten Vierungsbereich sowie zwei ebenfalls durchbrochenen Gewölbejochen im Langhaus und einem im Querschiff die übrige Struktur gehalten hatte. Mobile Kunstschätze wie die Reliquie der Dornenkrone Christi waren noch während des Brands aus dem Gebäude gerettet worden.
Generalstabsmässige Planung
Unmittelbar nach der Katastrophe erklärte Emmanuel Macron, Notre-Dame werde in fünf Jahren wiederaufgebaut sein, schöner als je zuvor. Das war keine Amtsanmassung, denn seit der Trennung von Kirche und Staat im laizistischen Frankreich 1905 sind die bestehenden Kirchen und Synagogen Staatsbesitz und werden den Religionsgemeinschaften lediglich zur Nutzung überlassen.
Um den ehrgeizigen Zeitplan durchzusetzen, der angesichts der seinerzeit nicht übersehbaren Schadenslage bei Denkmalpflegern und Bauhistorikern zunächst auf heftige Kritik stiess, ernannte Macron den General Jean-Louis Georgelin, bis 2010 Generalstabschef der französischen Armee, zum Sonderbeauftragten für den Wiederaufbau. Gelungenes Krisenmanagement eignet sich stets zur Profilierung von Politikern, und französische Staatspräsidenten inszenieren sich überdies gerne – man denke an François Mitterrand – als machtbewusste Bauherren, welche der Nation architektonisch ihren Stempel aufdrücken.
Auch wenn Macron die Fertigstellung zu den Olympischen Spielen lieber gesehen hätte und die offizielle Wiedereröffnung der Kathedrale nun erst am zweiten Dezemberwochenende gefeiert wird: Das Werk ist vollendet, fast im Zeitplan. Davon können andere Länder, in denen selbst deutlich weniger aufwendige Restaurierungsprojekte zu einem unkalkulierbaren zeitlichen Risiko werden, nur träumen.
Es gab aber auch glückliche Umstände, welche sich positiv auf die Restaurierungsarbeiten auswirkten. Einerseits bedurfte es nur weniger Tage, bis die avisierte Summe an Spendengeldern zusammengekommen war; die Milliardärsfamilien Arnault, Pinault und Bettencourt überschlugen sich nachgerade bei der Zusage von dreistelligen Millionenbeträgen. Fast 850 Millionen Euro wurden gespendet. Anderseits zeigte sich bei der Bauaufnahme, dass das bestehende Tragwerk den Brand überstanden hatte und auch viele Ausstattungsgegenstände wie die historischen Glasfenster weitgehend unversehrt geblieben waren.
Und schliesslich existierte ein im Vorfeld der gerade eingeleiteten Restaurierungskampagne erstelltes detailgenaues 3-D-Modell, sozusagen ein digitaler Zwilling der realen Kathedrale, der es erleichterte, die zerstörten Partien zu rekonstruieren.
Restabilisierung des Alten
Doch was bedeutet eigentlich Rekonstruktion, was Wiederaufbau? Notre-Dame ist über Jahrhunderte entstanden, wie andere Kathedralen auch. Der Ursprungsbau wurde in mehreren Bauetappen zwischen 1160 und 1250 errichtet. Im frühen 18. Jahrhundert erneuerte man die Querschiffgewölbe, und ausser den grossen Rosetten wurden die Buntglasfenster durch farbloses Glas ersetzt, das man in der Epoche des Klassizismus als neutral favorisierte.
Zur Zeit der Französischen Revolution galt Notre-Dame als Inbegriff des Ancien Régime schlechthin, der Skulpturenschmuck wurde zu weiten Teilen zerstört, wenn auch das Gebäude selbst zum Tempel des höchsten Wesens avancierte und damit vor weiteren Zerstörungen bewahrt blieb. Napoleon erneuerte die traditionelle liturgische Nutzung und liess sich in dem geschundenen Bauwerk 1804 zum Kaiser krönen. Victor Hugos Roman «Notre-Dame de Paris. 1482» (deutsch zumeist publiziert unter dem etwas irreführenden Titel «Der Glöckner von Notre-Dame») aus dem Jahr 1831 machte die Kathedrale zum zentralen historischen Schauplatz und trug zu ihrer positiven Neubewertung in der Zeit der Romantik bei.
Ohne das extrem erfolgreiche Buch wäre die 1844 einsetzende Renovierung unter dem damals 30-jährigen Eugène Viollet-le-Duc und seinem Partner Jean-Baptiste-Antoine Lassus nicht zustande gekommen. Restauration, so schrieb Viollet-le-Duc 1866, bedeute nicht, ein Gebäude instand zu halten, zu reparieren oder zu erneuern. «Vielmehr bedeutet es, es in einem vollständigen Zustand wiederherzustellen, den es möglicherweise noch nicht gab.»
Mit anderen Worten: Viollet-le-Duc baute mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts gotischer, als die Gotik es vermochte. Seine wohl markanteste Intervention: der spitz aufragende, aus Holz bestehende und mit Blei verkleidete Vierungsturm aus dem Jahr 1859, der mit 95 Metern über dem Boden sich 20 Meter mehr dem Himmel entgegenreckte als sein 1786 aufgrund von Baufälligkeit demontierter Vorgänger. Gerade dieser Turm wurde zur Ikone der Zerstörung des Jahres 2019.
Woran also anknüpfen beim Wiederaufbau? An den gotischen Bestandsbau? An die Umbauleistungen unter Viollet-le-Duc? Oder sollte man Zeichen des Neuen setzen? Macrons Diktum, Notre-Dame werde schöner entstehen denn je, liess sich vielleicht in Hinsicht auf das Letztgenannte interpretieren. Kam hinzu, dass Premierminister Édouard Philippe am 17. April 2019 einen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau in Aussicht gestellt hatte, bei dem Dach und Vierungsturm zum Thema werden sollten.
Der Wettbewerb kam nie zustande, und doch kursierten wenige Tage später verschiedene Vorschläge im Netz: ein gläsernes Dach aus Baccarat-Kristallen von Massimiliano und Doriana Fuksas; ein Gewächshaus im Dachstuhl samt Imkerstation vom jungen Büro NAB. Auch Lord Norman Foster, der Altmeister des britischen High Tech, phantasierte von einer Glasorgie oberhalb des Mauerkranzes.
Natürlich war die Frage berechtigt, ob es denn nicht eine zeitgenössische Lösung geben könnte. Und doch wirkten die zur Debatte stehenden Entwürfe eher modisch und zeitgeistig, aus dem Augenblick geboren, aber wenig dauerhaft; kein Ruhmesblatt für die Disziplin Architektur. Wie lautete doch das Diktum des Philosophen Hermann Lübbe: Das Alte restabilisiert sich, je rascher das Neue veraltet.
So auch in Paris: Umfragen zeigten, dass die Bevölkerung sich eine Wiederherstellung des Bestands wünschte. Und dem gemäss wurde auch im Juni 2020 entschieden – die Pläne für moderne Interventionen auf Dachebene gerieten zur Makulatur.
Farbe, Licht, Immaterialität
Für das riesige Team aus Historikern, Architekten, Bauarchäologen, Materialforschern und Digitalexperten waren damit Leitplanken gesetzt, innerhalb deren es eine Spur zu finden galt. Grundsätzliche Maxime: zurück zur Gotik, zurück zu Viollet-le-Duc. Die Gewölbe wurden wiederhergestellt mit dem Kalkstein aus dem Département Val-d’Oise, den schon Viollet-le-Duc genutzt hatte, da die ursprünglichen Pariser Vorkommen ausgebeutet waren. Für den Dachstuhl und die Konstruktion des Vierungsturms kamen 2000 Eichenstämme zum Einsatz – Holz von ungefähr 60 Jahre alten Bäumen, so wie man es nach heutiger Erkenntnis schon vor 800 Jahren verwendet hat.
Die Forschung ist ein Nebenprodukt, das ohne die Katastrophe nicht möglich gewesen wäre. Denn seit den Zeiten Viollet-le-Ducs ist niemand mehr so nahe an alle Bauteile in Notre-Dame herangekommen. Vieles hat die Beteiligten überrascht – so die massive Verwendung von Eisenankern zur Stabilisierung, die bislang erst aus dem 13. Jahrhundert bekannt war. Oder die mit 13 Zentimetern extrem dünne Gewölbeschale; in der vorangegangenen, viel niedrigeren Kathedrale von Sens betrug die Stärke noch 30 Zentimeter. Ein nicht zu unterschätzendes Resultat der vergangenen fünf Jahre: Erkenntnisgewinn.
Das Himmelstürmende der Gotik erklärt die Begeisterung, die Bauten dieser Stilepoche auch heute noch auslösen: bautechnische Potenziale ausreizen, immer noch etwas mehr von der Erde sich lösen. Die Kathedrale von Beauvais sollte mit ihrem Schiff 48 Meter Höhe erreichen, sie blieb ebenso Fragment wie der erst im 19. Jahrhundert vollendete Kölner Dom.
Mehr als 12 Millionen Besucher pro Jahr zählte Notre-Dame vor dem Brand. Diese Zahl dürfte nach der Wiedereröffnung steigen. Wer die wiederhergestellte Kathedrale besucht, wird seinen Augen kaum trauen. Verschwunden ist nicht nur der Bleistaub, der sich wie Mehltau nach dem Brand über das gesamte Innere gelegt hatte. Verschwunden sind auch Staub und Russ der vergangenen mehr als 150 Jahre. Die Kalksteinwände leuchten in ihrem hellen Farbton, sämtliche Glasfenster wurden ausgebaut und gereinigt, und auch die Kapellen des Chorumgangs erstrahlen in ihrem bunten Farbenglanz, den ihnen Viollet-le-Duc zugedacht hatte.
Von der Diözese beauftragt wurden der Bildhauer Guillaume Bardet für die Gestaltung des schlichten und würdigen Mobiliars aus dunkler Bronze (Altar, Bischofsstuhl, Lesepult, Tabernakel, Taufbecken) sowie die Designerin Ionna Vautrin für den Entwurf der 1500 Stühle aus Eichenholz. Noch steht die Umgebungsgestaltung aus, die der zurzeit international gefeierte belgische Landschaftsarchitekt Bas Smets verantwortet. Teil davon ist auch der Umbau der unter dem Vorplatz im Westen gelegenen Tiefgarage; sie soll zukünftig als Besucherzentrum dienen und damit den Publikumsfluss kanalisieren.
Pierre Nora, der grosse Historiker und Theoretiker der «lieux de mémoire», sieht in Notre-Dame einen der wichtigen französischen Erinnerungsorte. Von der Seine umflossen, steht die Kathedrale für Zentralität: in geografischer, historischer und kultureller Hinsicht, wie er kurz nach dem Brand dem «Figaro» gegenüber bekundete.
Sie ist aber noch mehr, nämlich neben dem Eiffelturm Symbol und Wahrzeichen von Paris schlechthin. Und Inbegriff des gotischen Bauens. Man muss kein Christ sein, man muss nicht einmal gläubig sein. Wie Architektur immateriell wird, wie das Lastende der steinernen Architektur in Licht und Farbe sich auflöst und auf ebenso wundersame wie kalkulierte Weise von filigranen Baugliedern gehalten und getragen wird, das lässt sich in der restaurierten Kathedrale erfahren, erleben und spüren wie kaum irgendwo sonst.