In der Provinz Van hatte die Regierung einen Wahlsieger nur zwei Tage nach der Wahl disqualifiziert und ihren eigenen Kandidaten als Bürgermeister eingesetzt. Nach empörten Protesten krebst Ankara zurück.
Zu den Siegern der türkischen Lokalwahlen vom Sonntag gehören auch die Kurden und ihre wichtigste politische Kraft, die DEM-Partei. Zwar stimmten in den grossen Metropolen des Landes viele Angehörige der Minderheit aus strategischen Gründen für die Kandidaten der kemalistischen Opposition, wie den populären Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Im Südosten, wo die meisten türkischen Kurden leben, ging die DEM aber in zehn Provinzen als stärkste Kraft hervor.
Damit hat die Partei für Demokratie und Gleichheit der Völker, so der volle Name, im Vergleich zu den Wahlen von 2019 die Stellung in ihren Stammlanden nochmals ausgebaut. Damals hiess die Partei noch HDP. Wegen eines Verbotsverfahrens gegen die HDP wurde Ende letzten Jahres eine neue Partei mit anderem Namen gegründet.
Disqualifizierung in letzter Minute
Ein Vorfall in Van weckte unter ihren Anhängern allerdings die Sorge, dass die Regierung von Recep Tayyip Erdogan wie schon nach der letzten Wahl mit juristischen Mitteln gegen die Partei vorgehen will. Ein erstes Kräftemessen haben die Kurden nun aber für sich entschieden.
Doch der Reihe nach: In der Provinz Van, die zwischen dem gleichnamigen See und der iranischen Grenze liegt, hatte der Spitzenkandidat der DEM, Abdullah Zeydan, am Sonntag das Rennen mit mehr als 55 Prozent der Stimmen klar für sich entschieden. Dennoch wurde am Dienstag der Zweitplatzierte, Abdullahat Arvas, von Erdogans AK-Partei als Bürgermeister der Metropolregion Van eingesetzt.
Hintergrund war eine Einsprache aus Ankara in sprichwörtlich letzter Minute. Kurz vor Dienstschluss am Freitag, zwei Tage vor der Wahl, hat das Justizministerium die Neubeurteilung eines Entscheids beantragt, durch den die politischen Rechte von Zeydan wiederhergestellt worden sind. Zeydan hatte von 2016 bis 2022 wegen Unterstützung einer Terrororganisation in Haft gesessen.
Die türkische Justiz ist in den vergangenen Jahren gegen Tausende von kurdischen Politikern mit dem Vorwurf vorgegangen, diese stünden der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahe. Oft war die Beweislage eher dünn. Das erwähnte Verbotsverfahren gegen die HDP geht ebenfalls darauf zurück.
Per Gerichtsentscheid erhielt Zeydan nach der Entlassung aus dem Gefängnis seine vollen politischen Rechte zurück. Dieses Urteil wurde auf Intervention des Justizministeriums revidiert und Zeydan damit nachträglich von der Wahl disqualifiziert. Dabei hatte die Wahlbehörde seine Kandidatur vor der Wahl geprüft und bestätigt.
Tausende demonstrieren im Südosten
Der Entscheid löste grosse Empörung aus. Tausende Menschen gingen am Dienstag im Südosten der Türkei auf die Strasse. Örtlich kam es zu Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei. 89 Personen wurden laut Polizeiangaben vorübergehend festgenommen.
Angesichts der Unruhen erliessen die Behörden für die Provinzen Van und Bitlis ein 15-tägiges Demonstrationsverbot. In einem Bezirk von Siirt wurde eine Ausgangssperre verhängt. Dennoch nahmen auch am Mittwoch in Van wieder Tausende an Protestkundgebungen teil.
Die Empörung war auch deshalb so gross, weil das Manöver gegen Zeydan Erinnerungen an die Welle der Repression nach den Lokalwahlen 2019 weckte. Von den 65 damals gewählten Bürgermeistern der HDP waren zwei Jahre später nur noch 6 im Amt. Alle anderen waren von der Regierung abgesetzt und durch Statthalter, sogenannte Kayyum, ersetzt worden. Der türkische Menschenrechtsverband warnte am Dienstag in einer Stellungnahme vor einer neuen Kayyum-Mentalität.
Kemalistische Opposition solidarisiert sich mit Kurden
Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei Tuncer Bakirhan sprach am Mittwoch von einem «politischen und juristischen Putsch» und forderte die Wahlbehörde auf, sich nicht der Regierung zu beugen. Aus dem Gefängnis wandte sich der inhaftierte frühere Vorsitzende Selahattin Demirtas an Präsident Erdogan. Dieser habe doch in der Wahlnacht versprochen, den Willen des Volkes zu respektieren.
Unterstützung kam auch von der grössten Oppositionspartei, der CHP. Der Parteivorsitzende Özgür Özel sprach von einem «Hinterhalt gegen die Wähler» und entsandte eine Parlamentarierdelegation nach Van.
Die Regierung wies den Vorwurf der politischen Einflussnahme anfänglich kategorisch zurück. Dann wurde der Druck aber zu gross. Am Mittwochabend vermeldete die Wahlbehörde, dass Zeydan sein Amt nun doch antreten könne. Statt für eine zweite Nacht des Protests gingen die Menschen in Van darauf zum Feiern auf die Strasse.






