Er gehört zu den berühmtesten Choreografen der Welt, gleichzeitig ist er der berüchtigtste. Seit er nämlich eine Kritikerin mit Hundekot beschmiert hat. Nun erhält er eine Chance in Basel.
Am 11. Februar 2023 schmierte der Choreograf Marco Goecke bei einer Ballettpremiere in Hannover der Tanzkritikerin der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» den Kot seines alten Dackels Gustav ins Gesicht. Diesem Ausraster war ein persönlicher Streit mit der Kritikerin über deren Besprechungen seiner Arbeit vorausgegangen, der eskalierte. Der Vorfall hat den deutschen Choreografen berühmt, aber ebenso berüchtigt gemacht. Trotzdem hat ihn das Theater Basel nun als Ballettdirektor ab Sommer 2025 verpflichtet.
Wer heute mit Marco Goecke spricht, spürt, dass ihm die Bitternis über seine äusserst zwiespältige Berühmtheit in den Knochen steckt: «Mir tut es unendlich leid für alle, die ich verletzt habe», sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung. Doch geschehen ist geschehen.
Künstler und Täter
Die Journalistin zeigte Marco Goecke wegen Beleidigung und Körperverletzung an. Er war seine Stelle als Ballettdirektor in Hannover los. Einige Tanzkompanien strichen umgehend seine Stücke aus dem Spielplan. Wo sie aber weiterhin gespielt wurden, liefen sie wie verrückt, nun erst recht. So auch in der Schweiz. Nur eine Woche nach «dem Eklat», wie Goecke seinen Übergriff nennt, wurde sein Stück «Almost Blue» vom Zürcher Publikum bejubelt. Anfang März brachte das Origen Festival seine letzte Uraufführung, das Solo «Seven Ages» zu einer neuen Komposition von Kirill Richter, heraus. Und Zürichs Ballettdirektorin Cathy Marston hat für diese Spielzeit sein Meisterwerk «Nijinski» wieder in den Spielplan aufgenommen, es ist ab 14. Juni zu sehen.
Offensichtlich ist Marco Goeckes Kunst zu gut, um nicht gezeigt zu werden. Die flirrenden Arme, die schwindelerregenden Drehungen, die fiebrigen Bewegungen – sie mögen tatsächlich Zeichen unserer Zeit sein und darum so viele Menschen berühren. Unbestritten ist, dass der Choreograf eine ganz eigene Tanzsprache entwickelt hat. Das geschieht im Ballett ausgesprochen selten. Also wollten zahlreiche Kompanien ein Werk von Goecke im Repertoire haben, und viele wollen es weiterhin.
Nach dem Übergriff wurde abseits des Boulevards denn auch schnell zwischen dem Täter und seiner Kunst unterschieden. Das Ballett bietet dafür in der Praxis recht günstige Strukturen: Die vorliegenden Choreografien wurden von Assistenten einstudiert, der Künstler selbst blieb zu Hause.
«Nicht vorbestraft»
Inzwischen ist etwas Gras über die Angelegenheit gewachsen. Das Strafverfahren gegen Marco Goecke wurde gegen eine Geldauflage eingestellt. Er hat einen mittleren vierstelligen Betrag an einen gemeinnützigen Verein für Konfliktlösung gezahlt. Die Staatsanwaltschaft Hannover hatte die Tat nicht als Körperverletzung, sondern als tätliche Beleidigung eingestuft. Die betroffene Kritikerin der «FAZ» verzichtete auf eine zivilrechtliche Schmerzensgeld-Klage gegen den Künstler. «Ich bin nicht vorbestraft, nicht als kriminell gelistet», sagt Goecke.
Mittlerweile ist er auch wieder als Gastchoreograf willkommen, wie Aufträge in der kommenden Spielzeit 2024/25 für das Staatstheater Nürnberg Ballett oder die Ballets de Monte-Carlo zeigen. Und ab Sommer 2025 nun also sogar als festangestellter Ballettdirektor in Basel.
Benedikt von Peter, der Intendant des Theaters Basel, begründet die Entscheidung so: «Basel war und ist eine Tanzstadt, und Marco Goecke ist einer der besten Choreografen, die es derzeit gibt.» Diesem Künstler eine feste Station zu bieten, hält er für sinnvoll. Der Anstellung seien lange Gespräche, viele Diskussionen im Verwaltungsrat und eingehende Untersuchungen vorausgegangen.
Marco Goecke nimmt die ihm gebotene Chance durchaus mit Rührung an. «Ich möchte meine Arbeit, die ich in Hannover begonnen und gerne gemacht habe, weiterführen», sagt er. «Ich stehe ja nicht am Morgen auf und denke, ich muss grosse Kunst machen, so etwas habe ich nie gedacht. Ich gehe immer zur Arbeit, um Menschen zu treffen. Ich bin zwar ein Einzelgänger, aber ich habe auch ein grosses Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein. Und was ich in Hannover mit meinen Tänzerinnen und Tänzern gehabt habe, war etwas sehr Liebevolles, Familiäres.» Er hat die Kompanie gut durch die Pandemie gebracht und in jener schwierigen Zeit sogar grosse Stücke wie «Der Liebhaber» nach Marguerite Duras geschaffen.
Einige aus seiner Hannoveraner «Familie» werden ihm sicher nach Basel folgen. «Natürlich werde ich mich in Basel erst einmal selber mit meiner Arbeit vorstellen, damit die Leute wissen, was ich mache.» Er werde auch Choreografinnen und Choreografen einladen, die er für die Tanzwelt als bedeutsam erachtet. Besonders liegt ihm aber der Nachwuchs am Herzen. «Das habe ich in Hannover gemacht, und das möchte ich auch in Basel tun: jungen Leuten eine Chance zum Choreografieren geben. Und das im kleineren Rahmen, auf kleiner Bühne, wo sie etwas ausprobieren können, ohne dass man immer gleich den grossen Wurf erwartet.»
Weniger Gastengagements
Doch wie steht es mit der Doppelbelastung, als Direktor einer Kompanie und als Choreograf? Die Kot-Attacke auf die Kritikerin hatte Goecke nicht zuletzt mit einem Burnout begründet. Der Künstler choreografierte neben seiner Tätigkeit als Ballettdirektor regelmässig auch für andere Kompanien.
Nun hatte er über ein Jahr lang Zeit, auch über sein Arbeitspensum nachzudenken. Mit der Basler Theaterleitung ist er übereingekommen, dass er höchstens eine auswärtige Arbeit pro Spielzeit annimmt. Und er wird bei der Leitung der Basler Kompanie Unterstützung durch seinen langjährigen choreografischen Assistenten Ludovico Pace und seine Managerin Nadja Kadel erhalten.
Goeckes Dackel Gustav ist Ende November 2023 gestorben, so erzählt es der Choreograf. Noch nie habe er eine so tiefe Trauer erlebt. Über fünfzehn Jahre lang habe Gustav neben ihm gesessen, in jedem Ballettsaal, in jedem Theater. Jetzt brenne ein Lichtlein im ehemaligen Heim des Tiers.