Sie ist 84 und sitzt seit 40 Jahren im Repräsentantenhaus: Nun hat Nancy Pelosi ein Buch geschrieben. Die gewiefte Taktikerin lässt sich allerdings kaum in die Karten blicken.
Als Minnie D. Craig aus Esmond 1933 ihr neues Amt antrat, wusste niemand, wie ihr Titel korrekterweise lauten müsste. Die Abgeordneten North Dakotas hatten sie zu ihrer Speakerin gewählt, aber keine Anrede bestimmt. Craig zog es anfangs vor, als «Mr. Speaker» angesprochen zu werden, um keine weitere Aufmerksamkeit auf ihr Geschlecht zu lenken. Wochen nach ihrer Wahl verkündete eine Regionalzeitung indes stolz, fortan sei die Republikanerin Amerikas erste «Madam Speaker».
Auf Bundesebene kam der Titel erst im 21. Jahrhundert zur Anwendung; seine Trägerin wurde dafür zur – jedenfalls bisher – mächtigsten Frau in der US-Politik: Am 4. Januar 2007 rief die damals 66-jährige Nancy Pelosi erstmals das Haus zur Ordnung und versammelte anschliessend die Kinder und Enkel ihrer Parteikollegen um sich auf dem Podium. Für sie und für die Kinder werde sie ihr Amt ausführen, verkündete die fünffache Mutter und Tochter einer Politikerfamilie stolz.
Nun verarbeitet Pelosi in Buchform diesen Abschnitt ihrer bald vier Jahrzehnte im Abgeordnetenhaus, in denen sie von 2007 bis 2011 und erneut von 2019 bis 2023 die legislative Agenda massgeblich mitgestaltete. «The Art of Power» lautet der Titel der englischen Ausgabe. Auf dem Umschlagbild blickt Pelosi, gekleidet im Weiss der Suffragetten, der einstigen Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht, vom Capitol zum Washington Memorial.
Wo sind die Frauen?
Diese beiden Orte verbindet die National Mall, ein Parkgelände oder vielmehr eine Erinnerungslandschaft, über die sich Institutionen der Macht, die Gedenkstätten für die Mächtigen und Gefallenen verteilen. Noch fehlt ein Denkmal für Frauen oder für eine Frau allein, aber Pelosis Pose unterstreicht, dass die politischen Geschicke des Landes durchaus auch in Frauenhand sind.
Für die deutsche Ausgabe des Buches, die Ende Oktober erscheint, hat der Verlag einen anderen Titel gewählt: «Woman of Power». Damit wird das «Wer» betont, während das Original Einblicke in das «Wie» erhoffen lässt. «The Art of Power» scheint eine Antwort auf Donald J. Trumps berühmtes «The Art of the Deal», doch letztlich lässt Pelosi die Leserschaft kaum an ihrer Kunstfertigkeit teilhaben.
Dabei gilt die Vertreterin Kaliforniens als gewiefte Taktikerin, der es immer wieder gelungen ist, durch geschickte Verknüpfung verschiedener Anliegen ihre Partei zu einen. Gelten Abgeordnete gemeinhin mehr ihrem Wahlkreis als der Partei verpflichtet, schaffte es Pelosi in entscheidenden Fällen, diese zu disziplinieren und auf eine nationale Agenda zu verpflichten – und das in einer Phase, in der die Demokratische Partei diverser, urbaner und progressiver wurde.
Das Muster im Kaleidoskop
Nur hin und wieder lässt sich Pelosi auf den rund dreihundert Seiten in die Karten blicken. So wenn sie genüsslich erzählt, wie sie den legendären ehemaligen Rektor der katholischen University of Notre Dame, Theodore «Ted» Hesburgh, einspannte, um die Stimmen gläubiger Parteikollegen für Obamacare zu gewinnen.
Mehr überzeugte Pragmatikerin als Ideologin, vergleicht Pelosi ihre Arbeitsweise mit einem Kaleidoskop: «Wie bei einem Kaleidoskop muss die Koalition, die in der einen Variante funktioniert, nicht notwendigerweise in einer anderen Kombination repliziert werden.» Mit dieser Einstellung schlug sie auch Brücken zu den Republikanern, so dass sie zu Beginn ihrer Amtszeit mit George W. Bush einen respektvollen und produktiven Umgang fand.
Nur mit einem der vier Präsidenten, die Pelosi als Speakerin erlebte, mühte sie sich meist vergeblich ab, das passende Muster im Kaleidoskop abzubilden. Während sie sogar auf die Winkelzüge der Bush-Regierung um den Irak-Krieg nüchtern zurückblickt, macht sie ihre Verachtung für Donald J. Trump als Präsidenten so deutlich, wie sie es schon 2020 durch das Zerreissen seiner Rede zur Lage der Nation tat. Die Auswirkungen seiner Regierungszeit nehmen im Buch viel Raum ein – und sie zeigen, welchen menschlichen Preis Pelosi für Amt und Macht zahlen musste.
Blind für eigene Fehler
«Wo ist Nancy?», grölten am 6. Januar 2021 Trump-Anhänger im Capitol und verwüsteten Pelosis Büro, während sie sich mit ihren Kollegen in Sicherheit bringen lassen musste. Die gleiche Frage drang am 28. Oktober 2022 an das Ohr ihres Mannes Paul, als ihn ein Eindringling aus dem Schlaf riss und mit einem Hammer lebensgefährlich verletzte.
Es sind die Schilderungen dieser Gewalterfahrungen, in denen sich der Leser Pelosi nahe fühlt, während die Erfolgsgeschichten der übrigen Kapitel an die in den USA obligaten selbstgerechten Kampagnenbücher erinnern. Gleichzeitig offenbart sie gerade in der Suche nach den Ursachen der so verhärteten politischen Feindschaften, wie blind sie für Verfehlungen der eigenen Seite ist.
Für Pelosi tragen die Republikaner allein Schuld an der verrohten politischen Kultur in den USA. Dass es während ihrer Zeit als Speakerin ausgerechnet demokratische Abgeordnete waren, die gegen mehr Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz von Supreme-Court-Richtern stimmten, reflektiert sie ebenso wenig wie das Attentat von 2017, als auf ihre republikanischen Kollegen beim Baseball-Training geschossen wurde. Die einseitigen Mahnungen muten nicht nur mit Blick auf die zwei Attentatsversuche auf Trump unpassend an. Aber zur «Kunst der Macht» und der Mächtigen mag es gehören, Selbstkritik anderen zu überlassen.
Nancy Pelosi: The Art of Power. My Story as America’s First Woman Speaker of the House. Simon & Schuster, New York 2024. 337 S., Fr. 29.90. (Die deutsche Ausgabe «Woman of Power. Warum ich niemals aufhören werde, für ein besseres Amerika zu kämpfen» erscheint Ende Oktober im Goldmann-Verlag.)