Die Stimmberechtigten haben am Sonntag drei von vier Behördenvorlagen abgelehnt. Darin zeigen sich zwei globale Tendenzen: abnehmendes Vertrauen in die Politik und zunehmende Pattsituationen.
Die Antwort der Bevölkerung auf die Politik aus dem Bundeshaus zeugt von Misstrauen:
- Nein zu Engpassbeseitigung bei den Nationalstrassen.
- Nein zu strengeren Regeln für Untermieter.
- Nein zur erleichterten Kündigung wegen Eigenbedarfs.
Immerhin ist die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (Efas) nun gesichert. 53,3 Prozent haben sich am Sonntag für die Gesetzesanpassung ausgesprochen. Die Angstkampagne der Gewerkschaften und der SP, die vor höheren Prämien warnten, verfing nicht. Die Bevölkerung schenkte den Gesundheitsdirektoren und Ärztegesellschaften, die sich überall im Land für ein Ja eingesetzt hatten, mehr Glauben. In dieser Legislatur hatten SP und Gewerkschaften bisher ein gutes Gespür für die Stimmung im Land. Bei der wichtigsten Gesundheitsreform seit Jahren haben sie sich verschätzt.
Doch der Nimbus der Gewerkschaften, der spätestens seit dem Ja zur 13. AHV-Rente und dem Nein zur BVG-Reform wie poliertes Gold glänzt, hat höchstens eine leichte Patina bekommen. Obwohl von den politischen Parteien nur die SP die Nein-Parole zur Efas beschlossen hatte, sagten an der Urne 46,7 Prozent Nein. Auch bei den beiden Mietrechtsreformen lagen die Gewerkschaften mit ihren Parolen – wenn auch knapp – im Trend. Die Stimmberechtigten wollen den Vermietern keine weiteren Zugeständnisse machen.
Für den Bundesrat und das Parlament, aber auch die SVP, die FDP, die Mitte und die Wirtschaftsverbände, ist das Nein zu drei von vier Behördenvorlagen eine Niederlage. Besonders schwer wiegt, dass sie die Schweizer – ein Volk von Autofahrern – nicht davon überzeugen konnten, dass die Engpassbeseitigung wirtschaftsrelevant ist. Sogar in der Stadt St. Gallen, wo die geplanten Erweiterungsbauten unterirdisch und damit ohne Kulturlandverlust realisiert worden wären, sagte eine Mehrheit Nein.
Den Befürwortern war es im Abstimmungskampf nicht gelungen, das Hauptargument für den Ausbau zu betonen. Bei allen Bemühungen um einen gut ausgebauten öffentlichen Verkehr und neue Velowege: In der Schweiz ist die Strasse der mit Abstand wichtigste Verkehrsträger – vor allem für die Güterversorgung.
Der brave Slogan der vom Gewerbeverband orchestrierten Pro-Kampagne («Für eine Schweiz, die vorwärtskommt») überzeugte nicht einmal die autofreundliche Basis der SVP richtig. In der letzten Trendumfrage vor den Wahlen hatte sich fast ein Drittel gegen den Ausbau ausgesprochen. Die Gegner der geplanten Projekte kamen längst nicht nur aus dem links-grün dominierten urbanen Raum. Die Warnung der Gegner vor einem «masslosen Autobahnausbau» verfing auch auf dem Land.
Auch das Nein zu den beiden Mietvorlagen zeugt von einem gewissen Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Bundesbern. Aber überraschend kommt es nicht: In der Schweiz leben 58 Prozent der Bevölkerung zur Miete, 42 Prozent im Eigenheim. Weil jedes Jahr Zehntausende zuwandern und zu wenig gebaut wird, sind bezahlbare Wohnungen im städtischen Raum und den Agglomerationen zu einem raren Gut geworden. Auch hier verfing die Erzählung der Gewerkschaften und der politischen Linken, die die Gesetzesänderung als «Angriff aufs Mietrecht» brandmarkte.
Die Schweiz habe es, sagte Lukas Golder, Co-Leiter des Meinungsforschungsinstituts GfS Bern, schon kurz vor der Abstimmung, mit einer Vertrauenskrise zu tun. Und zwar mit einer von links. Das hat sich nun bei den Mietrechtsvorlagen gezeigt. Laut Lukas Golder dürfte die Revision vor allem den Teil der Bevölkerung geärgert haben, der sich trotz den enormen Kosten für den Ausbau der Renten ausspricht. Das erstaunte Fazit des erfahrenen Politologen lautet: «Das hat es noch nie gegeben in der Schweiz. Die Polarisierung von links funktioniert.»
Mitte und SVP sind gespalten
Noch erstaunlicher: Die Argumentation der Linken verfängt zunehmend auch bei der Basis der Mitte und der SVP. Die Hälfte der Mitte-Wählerinnen und -Wähler stimmte – trotz Nein-Parole der Mutterpartei – für die 13. AHV-Rente; bei der SVP waren es mit 55 Prozent noch mehr. Dasselbe beim BVG-Nein. Die Mitte war erneut hälftig gespalten, in der SVP sagten sogar nur 30 Prozent Ja.
Und auch bei der Abstimmung von Sonntag zeigten sich die Bruchstellen: Die Mitte zerfiel erneut in zwei Hälften, und bei der SVP müssen zwischen 30 und 40 Prozent der Basis gegen Efas und den Autobahnausbau gestimmt haben. In der Schweiz ist offensichtlich das eingetreten, was man in anderen europäischen Ländern oder auch den USA schon seit längerem beobachten kann.
Immer mehr Menschen haben Angst, zu Verlierern der Globalisierung zu werden. Sie sorgen sich um ihre Arbeit, ihre Rente und ihre Wohnsituation. Das spiegelt sich auch in der jüngsten Umfrage des Meinungsbefragungsinstituts Sotomo zu den Sparplänen des Bundes: Sogar die SVP-Basis würde eher bei der Armee sparen als bei der AHV.
Vertrauen in die Regierung sinkt
In der Schweiz ist das Vertrauen in den Bundesrat und die politischen Behörden traditionell hoch. Doch es nimmt ab. Laut GfS Bern sagten im März 2022 67 Prozent der Befragten, sie könnten sich auf die Regierung verlassen. Heute sind es noch 42 Prozent.
Mit diesem Trend ist die Schweiz allerdings nicht alleine. Er zeigt sich weltweit in allen Industrieländern. Wo in diesem Jahr gewählt wurde, haben die Regierungsparteien verloren. Ausnahmslos. Die Entwicklung hat mit den Nachwehen der Pandemie zu tun, vor allem aber mit der Inflation und der Angst vor Krieg.
Und noch eine weitere globale Tendenz spiegelt sich im Abstimmungsresultat von Sonntag: der Halbe-halbe-Trend. Weltweit kommt es immer häufiger zu Pattsituationen. Bereits die Abstimmung über den Brexit wurde mit 51,9 Prozent Ja-Stimmen entschieden, danach häuften sich solche knappen Resultate. «Das Volk» gibt es kaum mehr. An der Urne treffen sich immer häufiger zwei Volkshälften. Ausnahmen bilden oft Vorlagen, bei denen es um das eigene Interesse geht: Das Ja zur 13. AHV-Rente kam im März auf 58,2 Prozent Zustimmung, die BVG-Reform wurde im September mit 67,1 Nein abgelehnt.