Der Nahrungsmittelkonzern enttäuscht auch mit den Wachstumszahlen für das erste Halbjahr und senkt die Prognose. Die Aktien verlieren bis zu 5%. Die Aussagen des Managements deuten nicht darauf hin, dass es ab jetzt einfacher wird.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Der erste Blick auf Nestlés Halbjahresabschluss von heute Morgen lässt mich etwas ratlos zurück. Der Nahrungsmittelkonzern ist auch zwischen Januar und Juni 2024 aus eigener Kraft weniger schnell gewachsen als erwartet, das organische Umsatzplus beträgt noch lediglich 2,1%, die Prognose für das Gesamtjahr wird reduziert.
Unter Investoren wiederum überwiegt nicht unbedingt Ratlosigkeit, sondern viel eher Verdruss. Die Aktien verlieren bis 5% an Wert.
Was Beobachter am meisten irritiert, ist die nun doch gesenkte Wachstumsguidance: Neu rechnet das Management mit einem organischen Zuwachs von «mindestens 3%», vorher waren es rund 4% gewesen. Damit wäre Nestlé im Bereich des Jahres 2016, das im langjährigen Vergleich sehr schwierige Jahr, bevor der jetzige CEO Mark Schneider übernahm. 2017 fiel mit einem operativen Wachstum von 2,4% dann noch etwas schwächer aus, bevor es sukzessive aufwärtsging.
Kommunikation mit den Investoren gelingt offenbar nicht
Klar, der Schweizer Aktienmarkt ist schon seit Beginn der laufenden Berichtssaison nervös, die Kursausschläge als Reaktion auf die Halbjahreszahlen sind teilweise enorm. So notieren die Aktien von Julius Bär heute gegen 10% tiefer, Galderma verliert rund 5% an Wert, dagegen gewinnt Lonza mehr als 7%. Anfang Woche betrug das Minus bei Givaudan nach soliden Zahlen 4%, Belimo schloss euphorische 17,5% höher. Und es gilt oft Sippenhaft: Richemont-Aktien leiden etwa unter den schlechten Zahlen des französischen Wettbewerbers Kering. Hinzu kommen mehrere SMI-Titel wie jene des Industriekonzerns ABB, die ohne erkennbare News deutlich im Minus notieren.
Aber das ist nicht die einzige Erklärung für die stark negative Börsenreaktion am Donnerstag. Für mich macht es vielmehr den Eindruck, als habe das Vertrauen bei Nestlé in den vergangenen Monaten bereits deutlicher gelitten als ich zuletzt angenommen hatte – und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen in die operative Performance, wobei es durchaus auch Lichtblicke gibt, etwa beim Volumenwachstum – dazu weiter unten mehr. Zum anderen verunsichert wohl auch die Kommunikation, die nicht zu gelingen scheint.
Ende Mai zeigte sich CEO Schneider an einer Veranstaltung der US-Grossbank JP Morgan noch zuversichtlich, die Wachstumsprognose für 2024 erreichen zu können. Dies, obschon bereits das erste Quartal enttäuscht hatte. Danach dürfte der Konzern dann aber schon bald einmal zur Einsicht gekommen sein, wie schwierig dieses Vorhaben wird. Gleich mehrere Analysten fragen sich in den heute erschienen Berichten denn auch, wieso das Unternehmen die Tonalität nicht bereits etwas früher angepasst oder die Prognose gar gesenkt hat.
Unabhängig von den Managementaussagen glaubte denn auch eine Mehrheit nicht mehr an ein organisches Wachstum von 4% im laufenden Jahr, die Gewinnerwartungen ans Gesamtjahr sind in den vergangenen Wochen und Monaten laufend nach unten angepasst worden.
Nestlés Marktumfeld bleibt sehr schwierig
Nestlés Marktumfeld bleibt im Jahr nach dem grossen Inflationsschub in den Industrieländern sehr schwierig. Die Teuerung ist zurückgekommen, Preissteigerungen sind nicht mehr so einfach weiterzugeben. Gleichzeitig hat sich die Stimmung je nach Region stark eingetrübt. Gerade in den USA ist der Preiskampf sehr viel härter geworden. Die Konsumenten sind verunsichert, sie greifen lieber zur günstigeren Alternative als oft teurere Markenprodukte – von Nestlé – zu kaufen.
Das lässt dem Konzern zwei Möglichkeiten: Entweder er steigt wie einige seiner direkten Konkurrenten in den Kampf um Volumen ein und senkt die Preise, zumindest temporär mittels Aktionen, oder aber er nimmt in Kauf, dass die Käuferinnen abspringen. Ich deute die Aussagen des Managements so, dass Nestlé einen Mittelweg wählte. In gewissen Produktkategorien wie Health Science führte kein Weg an Preissenkungen vorbei, gerade weil die Sparte davor stark unter Druck gestanden hatte und zuerst zurück in die Verkaufsgestelle gelangen musste, wie CEO Schneider sich ausdrückte. Er betonte aber auch, dass Nestlé nicht Volumenwachstum mit Preissenkungen erkaufen wolle, das Unternehmen sei bedacht darauf, den Abstand zur Konkurrenz aufrechtzuerhalten, auch wenn das Verkaufsmenge kostet.
Enttäuscht haben auch die konjunkturelle Entwicklung und die Konsumentenstimmung in China. Die vorherrschende deflationäre Tendenz spürt Nestlé stark. Auf Konzernebene hat die Schwäche alle Produktkategorien umfasst, selbst eigentliche Wachstumstreiber wie Produkte für Haustiere und Kaffee verzeichneten nur ein tiefes einstelliges organisches Plus.
Diese Preis- und Marktdynamiken sind Gründe, wieso Nestlé in der Kommunikation einen starken Fokus auf das Volumenwachstum (Real Internal Growth, RIG) legt. Das ist sicher der Faktor, der sich besser steuern lässt. Die erfolgreiche Lancierung neuer Produkte, gezieltes Marketing und eine deutliche Verbesserung in der Gesundheitssparte sind positive Zeichen und führten für den Gesamtkonzern zu einem Plus mehr als 4 Prozentpunkten im Vergleich zum ersten Quartal.
Nestlé musste sich nach mehreren Jahren mit unter anderem sehr positiven Faktoren wie etwa neuen Konsummustern infolge der Pandemie erst in ruhige Fahrwasser und aus der reaktiven in eine aktive Haltung kommen. In gewissen Kategorien wie Tiernahrung lagen die Wachstumsraten während mehrerer Quartale im zweistelligen Prozentbereich, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, war klar. 2022 und 2023 lag das organische Wachstum nur noch wegen des Preiseffekts deutlich über den vorangegangenen Perioden.
Vor diesem Hintergrund zeigen die heute veröffentlichten Zahlen neben dem wieder positiven RIG auch sonst Lichtblicke. Die Lancierung neuer Produkte wurde im ersten Halbjahr gegenüber der Vorjahresperiode um 15% gesteigert, im Gesamtjahr soll das Plus gar 20% betragen. Und laut dem Unternehmen kommen die Innovationen an: Nescafé habe bereits von den neuen kalten Kaffeeangeboten profitiert. Nestlé Health Science scheint die schlimmsten Probleme überwunden zu haben, das Volumenwachstum drehte klar in den positiven Bereich.
Zumindest auf den ersten Blick positiv fällt auch die verbesserte operative Marge aus. Die ausgewiesene zugrunde liegende Betriebsgewinnmarge lag bei 17,4% und damit leicht höher als im ersten Quartal (17,1%). Am Ziel, sich 2024 im Vergleich zum Vorjahr (2023: 17,3%) zu steigern, hält Nestlé fest. Wobei kritische Stimmen darauf hinweisen, dass das Unternehmen das kostspielige Restrukturierungsprogramm gebremst habe, um die Profitabilität zu schonen.
Niemand scheint zu wissen, was Nestlés neue Normalität ist
Die grossen Fragen, die offenkundig weder Nestlé noch die Investorengemeinde oder die Analysten beantworten können, bleiben: Wo liegt die neue Normalität und wie verläuft der Weg dorthin? Und: Können sich Aussenstehende in dieser Gemengelage und vor dem Hintergrund der nochmaligen Enttäuschung noch auf das Gesagte verlassen? Kurzfristig bedeutet das für die vorgelegten Zahlen, dass sie trotz Einordnung durch das Management schwierig interpretierbar bleiben. Mittelfristig zeigte sich Schneider überzeugt, dass das jetzige Portfolio «in einem sauberen Jahr 2025» organisches Wachstum im mittleren einstelligen Prozentbereich generieren könne.
Doch was bedeutet ein sauberes Geschäftsjahr? Auf die explizite Frage, ob Nestlé am mittelfristigen Ziel für 2025 festhalte, blieb es für ein paar Sekunden still in der Konferenzschaltung. Schneider sagte dann, er habe noch eine Anschlussfrage erwartet, doch das Schweigen und die dann doch noch erfolgte Antwort können mir meine Ratlosigkeit nicht wirklich nehmen: «Sie sollten das mittelfristige Wachstumsziel eher für die mittlere Frist verstehen, über die konkrete Wachstumsprognose für 2025 informieren wir – wie immer – anlässlich der Präsentation der Jahreszahlen 2024 im Februar.»
Eine befriedigende Antwort ist das nicht, und vor allem deutet sie nicht daraufhin, dass es ab jetzt einfacher wird. Damit verdeutlicht die heutige Reaktion auf die Zahlen wohl vor allem etwas: die grosse Furcht des Aktienmarktes vor Unsicherheit.
Freundlich grüsst im Namen von Mrs Market,
Gabriella Hunter