Das Interview des israelischen Ministerpräsidenten mit dem Westschweizer zeigt, wie geschickt Netanyahu rhetorisch vorgeht.
In kaum einem anderen europäischen Land bergen Pro-Palästina-Demonstrationen so viel Zündstoff wie in Frankreich. Innenminister Gérald Darmanin hat bereits im Oktober, kurz nach dem Terroranschlag der Hamas in Israel, solche Demonstrationen verboten. Das Verbot wurde während der internationalen Studentenproteste wiederholt. Zu hitzig wird in Frankreich über den Nahostkonflikt gestritten. Zu viele Menschen haben eine enge Beziehung zur Region.
In Frankreich weiss man auch: Ein singuläres Ereignis genügt für einen Flächenbrand. Die Angst also, dass nun auch Pro-Palästina-Demonstrationen wieder Anlass für grössere Unruhen geben könnten, ist latent. Dazu kommt eine militante Linke, die mit Aktionen die Gesellschaft weiter auseinanderdividiert.
Vergangene Woche war der Provokateur ein eher unscheinbarer Politiker namens Sébastien Delogu von La France insoumise (LFI). Während einer Fragestunde im Parlament schwenkte er in der Assemblée nationale die palästinensische Flagge.
Sanktionen wegen Palästina-Flagge
Für seine Aktion wird Delogu nun bestraft: Er darf die kommenden fünfzehn Sitzungstage nicht im Plenarsaal auftauchen. Zudem wird ihm der Lohn gestrichen. Der Betroffene verliess unter Applaus der linken Ratskollegen den Saal und machte dabei das Victory-Zeichen. Die Sanktion sei ihm egal, liess er verlauten. Frankreich müsse endlich aufwachen angesichts der vielen Toten in Gaza.
Über die Strafe wurde in der grossen Kammer abgestimmt: Die Bürgerlichen, die Rechte und die extreme Rechte waren dafür. Links der Mitte wurde dagegen gestimmt.
Da ist er also wieder, der Graben. Auf der einen Seite pro Israel, auf der anderen pro Palästina. Der Präsident, der das Zentrum vertritt, versucht seit Monaten, nicht in den Graben zu fallen. Nach dem Brand in einem Zeltlager bei Rafah mit 45 Toten am Sonntag rief Macron zu einer sofortigen Waffenruhe auf und verurteilte den Angriff – laut israelischem Militär eine unbeabsichtigte Kettenreaktion.
Auch bekundete Macron Sympathien mit Irland, Spanien und Norwegen, die diese Woche Palästina als Staat anerkannten. Auch für Frankreich sei die Anerkennung eines palästinensischen Staates kein Tabu, sagte er. Nur eben nicht jetzt, in einer so emotionalen Stimmungslage.
Interview mit Netanyahu in aufgeheizter Stimmung
Und mitten in dieses aufgeheizte Klima grätscht nun auch noch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Ausgerechnet jetzt gibt er ein grosses Interview in Frankreich. Im eigenen Land stellt er sich keinen Journalisten. Im Ausland aber tritt er punktuell auf – immer dann, so scheint es, wenn er eine Chance wittert.
Der rhetorisch versierte Politakrobat nutzt die Gelegenheit, um in Frankreich Israel gegen sämtliche Anschuldigungen zu verteidigen. Bevor das Interview ausgestrahlt wurde, demonstrierten jedoch rund 2500 Personen vor dem Sitz von TF1, wo auch der Nachrichtensender LCI untergebracht ist. Sie forderten das TF1-Management auf, keine «israelische Propaganda» zu verbreiten.
Gegen 20 Uhr 30 am Donnerstagabend konnte jeder, der das wollte, dann sehen, wie es auch einem so versierten Interviewer wie Darius Rochebin schwerfällt, Netanyahu in seinem Monolog zu bremsen. Der Westschweizer ist das Aushängeschild des Nachrichtensenders LCI, ein Mann mit guten Kontakten und einem konfrontativen Interviewstil.
«Terrorstaat in der Banlieue»
Netanyahu liess keine Gelegenheit aus, um den Franzosen ihre eigenen Schwächen (zunehmende antisemitische Vorfälle), Wunden (Terroranschläge im eigenen Land) und Fehler (militärische Fehlleistungen, etwa in Mali) vor Augen zu führen. Gleichzeitig versuchte er mit Charme, die Franzosen für Israel zu gewinnen. Dafür wechselte er gar vom Englischen ins Französische.
«Notre victoire, c’est votre victoire», sagte er – unser Sieg ist euer Sieg. Es sei ein Sieg der Israeli über den Antisemitismus, der jüdisch-christlichen Zivilisation gegen die Barbarei. «Es ist der Sieg Frankreichs.» Israel sei zudem ein Bollwerk gegen den Terror. Und er fragte das Publikum, ob es etwa einen Terrorstaat in den Banlieues wolle.
Es versteht sich von selbst, dass das Interview am nächsten Tag zu reden gab. Netanyahus Platz sei nicht im LCI, sagte etwa der Sozialist Olivier Faure, sondern vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Und er war nicht der einzige Linke, der das Interview für politische Zwecke nutzte.